■ „Multikulturelles“ Berlin: Wehe, man wehrt sich
Wenn man den schleichenden Wandel der politisch-moralischen Verhältnisse sinnfällig beschreiben wollte, nirgends könnte man das so anschaulich tun wie an der Hans-Sachs-Schule in Kreuzberg. Die Chronologie der Ereignisse nach dem Marzahner Vorfall vom vergangenen November liest sich jedenfalls wie die Zeitrafferversion des deutschen Nach-Wende-Tagebuchs. Die Bigotten empören sich über eine Religionslehrerin, für die Hauptschüler, auch bewaffnete, nicht von vornherein Straftäter sind. Die Schulleitung sekundiert willfährig einem Polizisten, der auf dem rechten Auge blind zu sein scheint. Die Polizei findet an erkennungsdienstlichen Maßnahmen gegen 13jährige nichts Anstößiges und ermittelt auf Fährten, die sie selbst gelegt hat. Und manch ein Lehrer hat gelernt, daß Solidarität wohl aus der Mode gekommen, mithin nicht mehr opportun sei.
Warum das alles? Wären die Kreuzberger Schüler, wären die türkischen Berliner unter ihnen ordentlich verkloppt worden, sie könnten sich der Solidarität der von Gewalttaten ach so Betroffenen sicher sein. Wer sich freilich wehrt und rechte Provokateure in die Flucht schlägt, macht sich schuldig, wenn nicht gar zum Schuldigen. Aus der Religionslehrerin wird eine Helfershelferin, aus einem Lehrer, dem die polizeiliche Bespitzelung Kreuzberger Schüler 1989 noch in Erinnerung ist, ein potentieller Terrorist, aus erwachsenen Pädagogen plötzlich erschrockene Kleinbürger, die sich über den Werteverlust ihrer Schüler beklagen. Aus Tätern werden Opfer und aus potentiellen Opfern tatsächliche Gewalttäter. Die einen läßt man laufen, die andern werden verhört. Und das in einem angeblich multikulturellen Bezirk, und das in einer Stadt, in der keiner müde wird, vom Eingreifen gegen Rechte und Gewalttäter zu reden. Und alle nicken. Gehorsam. Uwe Rada
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