■ Buchtip: „Golems leiser Atem“
Den Titel „Golems leiser Atem“ erklärt Herausgeber und Übersetzer Peter Ambros im Vorwort: Laut Legende habe der berühmte Prager Rabbi Löw eine Figur geformt und sie Golem genannt. Durch eine in die Stirn einsetzbare Wunderkugel konnte die Figur lebendig werden. Es ist Ambros' Anliegen, der lebensspendenden Kugel nachzuspüren, die nach dem nationalsozialistischen Massenmord lange verloren geglaubt war und ihren literarischen Niederschlag in den Texten zeitgenössischer jüdischer Autoren aus Böhmen, Mähren und der Slowakei zu dokumentieren. „Der Golem, den wir meinen, atmet wohl noch, wenn auch leise.“
Die fünf Texte stammen aus den letzten 25 Jahren, ihre Autoren gehören überwiegend zur „zweiten Generation“ nach dem Holocaust. Die Qualität der Auswahl liegt in der Unterschiedlichkeit der Texte, die einen Einblick in die Gegenwart einer wenig beachteten Lebenswelt geben.
Die Erzählung Jiři Daničeks, „Vom Chinakohl“ erzählt vor dem Hintergrund einer irrealen, befremdenden Szenerie von zwei Männern, die an einer Straße immerfort durchziehender Soldatenkolonnen leben, denen sie Kohl anbieten. Was diese damit tun, wohin sie ihn mitnehmen, bleibt ebenso mysteriös wie Herkunft und Vergangenheit der beiden Männer. In der Gestaltung des Absurden und der menschlichen Ohnmacht scheint das Erbe Kafkas auf. So wird ein Charakteristikum tschechisch-jüdischer Identität deutlich. Die aufkeimende erste Liebe eines im Ghetto internierten Jungen zu „Miriam“ ist Thema der gleichnamigen Erzählung von Ivan Klimas. Seine sensible Erzählweise läßt den gewaltsamen Einbruch der Geschichte in das private Leben des Jungen, eine autobiographische Erfahrung Klimas, um so brutaler hervortreten: Nachdem Tausende von Menschen aus dem Ghetto „auf Transport“ müssen, bricht auch die Beziehung zu Miriam jäh ab. In „Der Traum von meinem Vater“ erzählt Karol Sidon von den Bemühungen des Sohnes, dem toten Vater in der Erinnerung, den Phantasien über dessen Tod in Theresienstadt nahezukommen. „Was wesentlich ist, ist die Legende“, sagt er und formuliert einen zentralen Punkt der Auseinandersetzung der „zweiten Generation“ mit ihrer Geschichte. Der Tod spielt auch in Arnošt Goldflams dramatischem Text eine Rolle und bezeichnet einen gemeinsamen Nenner aller Texte.
Die Zusammenstellung von Peter Ambros ist auch ein literarisches Mahnmal wider das Vergessen. Besser als manches steinerne Denkmal wird so die die Erinnerung an die Geschichte wachgehalten.Heinke Hager
Peter Ambros (Hg.): „Golems leiser Atem. Zeitgenössische jüdische Autoren aus Böhmen, Mähren und der Slowakei“. Gollenstein Verlag 1994, 272 S., 38 DM
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