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■ Berlinale-AnthropologieDie Erfindung von Gegenwart

Die Zeitung, die heute zu lesen ist, erzählt bloß von gestern. Deshalb wird sie alles tun, dich glauben zu machen, sie erzähle von heute, von haargenau dem Tag, an dem du sie liest. Von Gertrude Stein stammt diese Einsicht in die grundsätzliche Paradoxie des Zeitungserzählens. Finden Sie heraus, welche Tricks wir verwenden, um Sie glauben zu machen, was Sie lesen, geschähe eben jetzt. – Einen der einfachsten Tricks appliziert eben jetzt Leroi, aus den Staaten gebürtig, aber seit langem hierzulande ansässig und für ein Blatt im Süddeutschen schreibend.

Während die Kollegen haltlos im freien Feld schweifen, um die letzten Nachrichten und Gerüchte zu erjagen – irgend so eine alberne Maßnahme der Planung und Leitung, die es dem Journalisten erschweren soll, von Vorführungen des Wettbewerbs direkt zu solchen des Forums zu wechseln: „achja!“ seufzt K. weise, „das ist doch von altersher ein Kampf wie zwischen Katholiken und Protestanten, der Wettbewerb und das Forum“ –, unterdessen zieht Leroi sich in sein Hotelzimmer zurück, um einen Artikel zu präparieren, der am Montag, den 19. Februar, in seiner Zeitung erscheinen wird.

Da läuft, erst um 20 Uhr 30, im Astor am Kudamm/Ecke Fasanenstraße „Gentleman's Agreement“ (1947) von Elia Kazan. (Um bei der Kunstfilm- Fraktion für sich gutes Wetter zu machen, wird Leroi erwähnen, daß 1931 bis 1933 im Haus des Astor Robert Musil zwei Pensionszimmer bewohnte.)

Leroi hat das Sakko abgelegt und fläzt sich im weißen Hemd auf dem weißen Bett. Ein erstes Schlückchen Wodka. Er hat sich die Kassette von „Gentleman's Agreement“ besorgt und schaut sie im Zimmerfernseher an.

Gregory Peck gibt einen Journalisten, der eine Artikelserie über den alltäglichen Antisemitismus in den USA schreiben soll, aber lange weiß er nicht, wie beginnen.

Bis er – 15 Jahre vor Günter Wallraff – auf die Idee verfällt, selbst als Jude aufzutreten und so alles Ressentiment und allen Haß auf sich zu ziehen, die der Antisemit auszugeben hat. Das

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bringt natürlich eine Menge ekelhafter Szenen – am Ende aber auch eine gloriose Artikelserie und, wenn ich mich richtig erinnere, den Pulitzerpreis.

Eigentlich handelt der Film – Leroi auf seinem weißen Lager nimmt noch ein Schlückchen Wodka – vom Mißtrauen. Wenn Gregory Peck in dem Hotel beim Einchecken ermittelt, daß sie keine Juden beherbergen, ist das kraß und widerwärtig. Aber von solchen Szenen aus entwickelt Gregory Peck einen sich ständig universalisierenden Verdacht, daß überall Antisemitismus oder wenigstens Bereitschaft, latente Bereitschaft zum Antisemitismus lauere, und schließlich erfaßt das Mißtrauen auch seine Liebste, Dorothy McGuire, ein gänzlich harmloses Mutzelkarlinchen, das sich, wie Gregory Peck unter Schmerzen entdeckt, nicht entschieden genug, sondern halt bloß mutzelkarlinchenhaft lieb, weich und anpassungsbereit im Kampf gegen den Antisemitismus verhält. Vertrauen herstellen ist etwas grundsätzlich anderes als Mißtrauen zerstreuen; am Ende bringt's die Musik, wenn die Zerstrittenen sich zum Happy end umarmen.

Leroi – noch ein Schlückchen Wodka – würde gern über das Mißtrauen schreiben, das alles in die Verweisungszusammenhänge der Paranoia auflöst, und dem die Deutschen wegen ihrer Verbrechen im Dritten Reich so gern nachgeben, wenn es um ihre Gegenwart geht, latenter Antisemitismus, Xenophobie, Ausländer verbrennen. Mit seinem amerikanischen Namen – noch ein Schlückchen Wodka – müßte es ihm, denkt Leroi, so zu schreiben gelingen, daß er nicht selber Opfer des Mißtrauens würde; das ihn, weil er die Dynamik des Mißtrauens statt der Gefahren des Antisemitismus analysiert, sogleich selber als Antisemiten outen könnte ...

Oder sollte er besser umschalten und über Dean Stockwell philosophieren, ein herziges Lockenköpfchen, das Jahrzehnte später den perversen Widerling in „Blue Velvet“ und in „Married to the Mob“ den Mafioso geben wird, vor dem Matthew Modine Michelle Pfeiffer retten muß?

Michael Rutschky

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