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■ Hat der Sozialstaat eine Zukunft? Die Diskussion darüber fällt hinter den Wertehorizont der fünfziger Jahre zurückDie Spaltung der Gesellschaft

Das Ende des deutschen Sozialstaats wird schon lange herbeigeredet. Dabei ist vorwiegend von den Kosten die Rede, namentlich von Lohnnebenkosten. Diese seien unter dem Druck der Konkurrenz auf weltweiten Märkten der deutschen Wirtschaft nicht mehr zumutbar. Insgesamt seien die Sozialausgaben zu hoch, sie seien angesichts des ökonomischen Zwangs, die Staatsausgaben zu senken, nicht mehr zu leisten. Interessant an dieser Argumentationskette ist der vermeintliche ökonomische Sachzwang mit dem seit über zehn Jahren die Senkung der Sozialausgaben gerechtfertigt wird.

Hinter dieser „ökonomischen“ sozialpolitischen Diskussion ist die Absicht eines neuen liberalen Denkens unschwer erkennbar, dem nicht nur die Freien Demokraten anhängen. Die Vertreter dieses anti(sozial)staatlichen Konzepts wollen all jene Freiheiten des Marktes wiederherstellen, die im Zuge des Ausbaus des Sozialstaats gebändigt wurden: Diese betreffen vorwiegend die sozialen Rechte des Arbeitnehmers, die die Risiken des Arbeitsmarktes (Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Alter) abfedern, sowie eine Sicherung der Familienangehörigen leisten sollten. Diese Sicherungen würden aber, so die Kritiker, einen Stillstand des Marktes und der Innovation bewirken. In diesem Argumentationskontext erhält die seit Jahren geführte Mißbrauchsdebatte ihren tieferen Sinn.

In den europäischen Industriestaaten gelten mehr oder weniger ähnliche wirtschaftliche und soziale Ausgangslagen und Entwicklungen. Das Besondere des deutschen Sozialstaats jedoch war seine prinzipielle Verknüpfung mit dem Status der Erwerbsarbeit und deren Risiken. Eine Grundsicherung hat unser Sozialversicherungssystem nicht institutionalisiert, so daß für alle sozialen Probleme außerhalb ihrer Zuständigkeit die Sozialhilfe einspringen mußte.

Diese Phänomene machen deutlich, daß nach neuen Wegen gesucht werden muß. Ich möchte diesen Reformbedarf an fünf Fragen illustrieren:

1. Auf dem Hintergrund der genannten Konstruktionsprinzipien des deutschen Sozialversicherungssystems und deren Krisen stellt sich die Grundsatzfrage, ob ein beitragsabhängiges, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziertes System strukturell die richtige Antwort auf den Arbeitsmarkt darstellt. Offensichtlich haben sich in der Bundesrepublik immer mehr Menschen der Sozialversicherungspflicht entzogen und wurden ausgesteuert. Wenn man obige Frage bejaht, müßte eine neue Definition der Versicherungspflicht eingeführt werden. Die neuen Selbständigen, die geringfügig Beschäftigten, die Beamten müßten in die Versicherungspflicht einbezogen werden.

2. Zusätzlich muß die Frage geklärt werden, welche Leistungen in die Zuständigkeit der Sozialversicherten und damit der Versichertengemeinschaft fällt und für welche der Staat, das heißt der Steuerzahler, zuständig ist. Was die Sozialversicherungsträger als versicherungsfremde Leistung bezeichnen, angefangen vom Babyjahr bis zur Umschulung, sind gesellschaftlich notwendige Aufgaben, über deren Finanzierung ein neuer Konsens hergestellt werden muß.

3. Es gibt nicht nur eine veränderte Arbeitswelt infolge der Informationstechniken, Arbeitszeitregimes und Arbeitsbiographien, es haben auch weitreichende Veränderungen des sozialen Lebens stattgefunden, die neue Anforderungen an soziale Sicherung stellen. Viel wird von der Tendenz zur Individualisierung gesprochen, weniger vom Autonomiegewinn der Menschen, aber eines ist gewiß: Die Familie hat die Rolle der sozialen Sicherung von Frau und Kindern schon lange eingebüßt. Das Sozialamt wird auf Dauer nicht der Ausfallbürge für alle modernen sozialen Entwicklungen sein können.

4. Der vierte Punkt betrifft die Frage der europäischen Gestalt der Sozialpolitik. Die europäische Integration wird eine Harmonisierung der sozialen Sicherungssysteme zur Folge haben. Dies könnte eine Absenkung hoher Standards bedeuten. Die Bundesrepublik hat die Weiterentwicklung einer Sozialcharta mit verhindert. Es gibt positive Vorbilder in anderen europäischen Ländern, von denen gelernt werden könnte, zum Beispiel bei der Gestaltung von Mindestsicherungsstandards.

5. Zuletzt wird die Frage zu stellen sein, was wir in der Bundesrepublik und in Europa unter sozialer Gerechtigkeit verstehen wollen. Vor allem die Mißbrauchsdiskussion zeigt, daß die Bereitschaft, dem anderen etwas nicht zu gönnen, höher ist als das soziale Mitleid. Allerdings erfährt das deutsche Sicherungssystem bei denjenigen, die daran teilhaben, eine hohe Zustimmung. Dieses Phänomen läßt sich auch als Spaltung der Gesellschaft kennzeichnen. Es ist meines Erachtens eine Folge der ökonomischen Sozialstaatsdiskussion in der Bundesrepublik, daß normative Fragen nach der sozialen Verteilung und nach sozialer Gerechtigkeit weitgehend ausgeblendet werden. Die Kirchen mußten eine Rüge der Bundesregierung einstecken, weil sei sich in sozialpolitische Zukunftsfragen eingemischt hatten.

Dieser Rückfall der Sozialstaatsdiskussion hinter den Wertehorizont der fünfziger Jahre zeigt sich auch daran, daß eine Definition von Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, unter anderem auch unter Einbeziehung der Bildungspolitik, heute nur noch befremdlich wirkt und von der Politik aggressiv als Überforderung des Staates abgewehrt wird.

Die Politik der Bundesregierung ist weit davon entfernt, die hier gestellten Fragen zu beantworten. An erster Stelle steht der Sparhaushalt, dessen gesellschaftspolitische Ziele und Wirkungen weitgehend ausgeblendet werden. Die Arbeitgeber haben ihrerseits dem Sozialstaat die Kündigung ausgesprochen, die Gewerkschaften erwidern erst jetzt mit dem „Bündnis für Arbeit“, die Sozialdemokraten sind dabei, ihre historische Rolle in der Sozialpolitik zugunsten der Wirtschaftspolitik zu opfern, und die betroffenen Menschen haben weder eine Lobby, noch sind ihre Interessenlagen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Würde heute über ein neues Konzept des Sozialstaates entschieden werden müssen, hätten diejenigen Stimmen, die für eine Liberalisierung eintreten, mehr Gewicht, und die anderen haben keine strategische Option, die eine solche Politik der Liberalisierung aufhalten könnte. Reformkonzepte, wie die soziale Grundsicherung, werden zwar seit Jahren diskutiert, Einfluß auf die Politik aber haben sie nicht erreicht. So betrachtet, wird alles beim alten bleiben, nur immer weniger davon. Barbara Riedmüller

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