: Die Bösen und die ganz normalen Guten
Warum das Buch von Daniel Goldhagen, „Hitlers willige Vollstrecker“, so erfolgreich ist: Es ist pornographisch. Es ist konservativ und eminent amerikanisch. Es ist moralisierend, und es legt offene deutsche Wunden bloß. ■ Von Y. Michal Bodemann
Wie erklärt sich der unerhörte Widerhall einer im englischen Original 600seitigen, wissenschaftlich weitgehend unhaltbaren, naiven, und dazu sich in der Hauptthese endlos wiederholenden Studie in ausgerechnet diesen zwei Ländern: den USA und Deutschland, fünfzig Jahre nach der Schoah und nach bereits zahlreichen fundierten historischen Studien? Wie kommt es darüber hinaus zu der weitgehend begeisterten Aufnahme in den USA und der hysterischen Reaktion in Deutschland, noch bevor das Buch auf deutsch erschienen ist? Die Übersetzung von Klaus Kochmann erscheint morgen im Siedler Verlag Berlin.
Hierzu gibt es meiner Ansicht nach drei Gründe. „Hitlers willige Vollstrecker“ bietet zunächst, wie keine bisherige Studie über den Holocaust, eine Pornographie des Horrors: ausführliche Schilderungen der unbeschreiblichsten Grausamkeiten, die die „ganz normalen Deutschen“ an Juden verübt haben. Mehr noch, Goldhagen verspricht uns ein Buch „aus der Sicht der Täter“, führt unsere die Pistole am Drücker oder die Peitsche haltende Hand. Um Pornographie handelt es sich hier auch in dem Sinne, daß Sexualität und Morden indirekt oder direkt miteinander in Verbindung gebracht werden, der Genuß des Mordens und Folterns seitens der Täter vor Augen geführt wird. Wenn Goldhagen also Clifford Geertz' Methode der „dichten Beschreibung“ für sich, fälschlicherweise meine ich, in Anspruch nimmt, so ist darunter nichts anderes, als diese dichten Schilderungen des grausamen Mordens zu verstehen. Diese Schilderungen sind der erste Grund für seinen Erfolg; sie verleihen dem Buch die ins Nationale projizierte voyeuristische Narration, dessentwegen sich das Weiterlesen offenbar erst lohnt.
Der zweite bislang noch von keinem Kritiker erwähnte Grund ist, daß dieses Buch nicht nur eine deutsche, sondern verdeckt und kontrastierend zur deutschen auch eine amerikanische Narration enthält: Es ist ein eminent amerikanisches Buch aus dem Zeitalter des Konservatismus. Goldhagen: „Diese Studie über den Holocaust und seine Täter schreibt deren Glaubensgrundsätzen oberste Bedeutung zu. Sie kehrt den Marxschen Grundsatz um und sagt, daß das Bewußtsein das Sein bestimmt.“ (Zitiert nach der englischen Ausgabe: „Hitler's Willing Executioners“, Seite 455)
Mit einem Schlag, ohne auf marxistische oder staatstheoretische Positionen, ohne auch nur beispielsweise auf Raul Hilbergs epochale Studie, auf Lucy Davidovicz oder auf Hannah Arendts These von der Banalität des Bösen einzugehen, wird hier der bürokratisierte und industrialisierte Massenmord heruntergespielt. Es werden einzig von ihren (antisemitischen) Werten geleitete Akteure geschaffen, für die die staatliche rassistische Propaganda, institutionelle Strukturen und Gruppenzwänge sowie Brutalisierung durch die Kriegsmaschinerie praktisch keine Rolle spielen. Es ist bezeichnend, daß der Name Adolf Eichmann in dieser Studie auch nicht einmal fällt. An ihre Stelle tritt free enterprise, ein freies Holocaust-Unternehmertum, innerhalb dessen die individuellen Täter in SS- und Polizeibataillonen nach eigener Lust, Laune und Gewissen ihre Opfer quälen und abschlachten. Freilich dürfen wir diesen Horror nicht ungestraft erleben, denn nach der Beschreibung der Bestialitäten, hier an jüdischen Frauen auf dem Todesmarsch, kommt stante pede die Moral: „Wie konnte ein Mensch auf diese bedauernswerten, kranken jüdischen Frauen blicken, ohne Mitleid zu fühlen, ohne das Gefühl des Horrors über die schreckliche physische Verfassung, in die sie gebracht wurden? (Seite 357)
Es ist kein Zufall, daß mehrere amerikanische Rezensenten – etwa Richard Bernstein in der New York Times vom 25. März – Goldhagens moralistische Argumentation so bestechend finden. Eben dieser Moralismus, mittels derer die Ursachen der Schoah ausschließlich in einem barbarisierten, durch Antisemitismus geprägten Deutschland verortet werden, verweist einerseits auf die heute in amerikanischen Debatten gängigen Ethik- und Kommunitarismus-Diskurse – wie kann ich nur in einer amerikanischen Suburb meinem in Bedrängnis geratenen Nachbarn nicht zur Seite stehen –, andererseits auf untergründige rassische Klassifikationen. Goldhagens quasi genetische ethno-nationale Dispositive werden zweifellos auch beeinflußt durch den heute wieder zunehmenden amerikanischen Antisemitismus, wodurch der deutsche Nazismus für Goldhagen eine gewisse Konkretisierung erhält und der amerikanische verharmlost wird: Louis Farrakhans unverblümter Judenhaß und die breite Tolerierung, die dieser findet, werden gerade von vielen Überlebenden der Schoah als tiefer Schock empfunden.
Bei Goldhagen sind es, ohne Abstriche und Differenzierungen, ob aus den Kirchen oder der SPD, dem Bürgertum oder der Arbeiterklasse, Stadt oder Land, die „ganz normalen Deutschen“, die die Verbrechen begehen. Deutschland als Reich der unqualifiziert Bösen. Ganz anders als bei Deutschen erklärt Goldhagen dagegen die Komplizität etwa von Ukrainern im Völkermord. Hier soll Judenhaß plötzlich keine Rolle mehr spielen, denn die im Verein mit Deutschen mordenden Osteuropäer morden, weil sie Opfer der Deutschen sind: „Schließlich gab es enorme Unterschiede zwischen den Lebensumständen und dem Handeln der Deutschen und denen, etwa der Ukrainer, die in deutschen Institutionen dienten. Die Deutschen hatten die Ukrainer besiegt, unterdrückt und enthumanisiert, und Zwänge (sic!) bestanden für die Ukrainer, die es für die Deutschen nicht gab.“ (Seite 408f.)
Auf ähnlicher Cocktail-Party- Konversationsebene sind es „die Italiener“ und „die Dänen“, die grundverschieden von den Deutschen reagierten und Juden retteten. Nationale Gruppen werden also moralisch-biologisch klassifiziert, wobei andere knifflige Fragen, wie etwa das Verhalten von Franzosen gegenüber den Juden oder auch der in Nordamerika damals gesellschaftsfähige Antisemitismus („No Jews or Dogs Allowed“ in öffentlichen Parks) und vor allem die amerikanische Gleichgültigkeit gegenüber den deutschen Verbrechen, bewußt ausgespart bleiben. Das beruhigt das amerikanische Gewissen und steigert den Verkauf. Es ist also meine These, daß Goldhagen den Holocaust aus einer betont amerikanischen Gefühlswelt heraus liest. Das erklärt die dortige Popularität seines Buches und relativiert das amerikanische Verhalten in Vietnam, die drastisch überproportionale Zahl von Todesurteilen an schwarzen Männern und die rassistische Strukturierung der Gesellschaft, einschließlich übler antisemitischer Hetze. Die deutsche antisemitische Mentalität wird als sui generis, unvergleichlich mit jedwedem anderen Antisemitismus deklariert.
Es ist bezeichnend, daß im dritten hier betroffenen Land, Israel, das Buch mit skeptischer Gelassenheit und Ablehnung zur Kenntnis genommen wurde. Efraim Zuroff bemerkt im Jerusalem Report: „Goldhagen präsentiert eine einfache Antwort auf die Frage, an der Wissenschaftler und Laien auf der ganzen Welt gerätselt haben. Man muß Deutsche und Nazis nur gleichsetzen, und das Rätsel des 20. Jahrhunderts ist gelöst. Wer würde für eine derart einfache Lösung auf eine komplexe Frage nicht dankbar sein?“
Dieser den Amerikanern genehme Diskurs über den Rassismus der Deutschen betrifft eine weitere Argumentation, die im Buch nur kurz, in späteren Interviews, so auch im Fernsehgespräch mit Michel Friedman vom 19. Juli, ganz betont erscheint. Antisemitismus, sagt Goldhagen, habe sich nach 1945 in der Bundesrepublik (aber offenbar nicht in der DDR?) drastisch abgeschwächt, und dies aus mehreren Gründen: „Im wesentlichen“, schreibt Goldhagen in einer Fußnote, „wurden die Deutschen nach dem Krieg umerzogen (reeducated)“. Und später, als sie ihre Souveränität wiedererlangten, „sie sich in die westliche Welt reintegrierten und die Judenverfolgung wie die restliche Welt zu sehen begannen (...), wurde es für sie immer schwieriger, ein dämonisiertes Bild der Juden aufrechtzuerhalten.“ (Seite 594)
Im Klartext heißt dies: Durch den geistigen Beistand der Amerikaner wurden die Deutschen innerhalb kürzester Zeit, und nach über hundert Jahren des „eliminatorischen Antisemitismus“, zu völlig neuen Menschen geformt, zu „born again“ liberalen Demokraten. Was mit dem Antisemitismus der Ostdeutschen passierte, das wissen wir freilich nicht. Daß die amerikanische Reeducation tatsächlich die gegenteilige Wirkung hatte, daß der Antisemitismus in breiten Teilen der Bevölkerung sich gerade nach 1945 zu voller Virulenz entwickelte, Nazis in hohen Positionen landeten, all dies bleibt dem naiven Blick durch Goldhagens rosafarbene Brille verborgen. Die religiöse Idee der Errettung des Menschen aus seiner Verderbtheit und hin zum einzig korrekten amerikanischen way of life schwebt hier untergründig mit.
Warum nun aber diese Hysterie in Deutschland, und zwar nicht nur unter den Historikern? Die Kollektivschuldthese reicht zur Erklärung nicht aus. Niemandem ist bisher die erstaunliche Parallele von Goldhagens Buch zur Jenninger- Rede im Bundestag am 10. November 1988 aufgefallen, dessentwegen Jenninger ja aus Amt und Würden gejagt wurde. Jenninger tat zwei Dinge in dieser Rede, die ihm zum Verhängnis wurden: Er beschrieb die Verbrechen in ihren bestialischen Einzelheiten, und er identifizierte das deutsche Volk, nicht eine Minorität verrückter Nazis, mit diesen Verbrechen. Darüber hinaus rief Jenninger eine Form nationaler deutscher Identität – nämlich die der dreißiger Jahre – in die Gegenwart, von der sich die Deutschen in den letzten Jahrzehnten zu verabschieden suchten.
All das tut auch Goldhagen. Er macht die „nazistischen“ Verbrechen zu „deutschen“ Verbrechen und verankert diese kollektiv-biologisch: Die Verbrechen sind ein deutsches Spezifikum und spezifisch gegen Juden gerichtete Verbrechen. Der Biologismus-Vorwurf wird eher noch dadurch erhärtet, daß Goldhagen paradoxerweise den heutigen Deutschen beflissen bescheinigt, sie seien ganz neue Menschen – in einem Interview in der New York Times: „They are like us“. Wie Amerikaner also.
Der Erfolg des Buches rührt deshalb aus seiner positiven amerikanischen und negativen deutschen nationalen Narration. Es bestätigt einer von Rassismus verseuchten USA, daß der eigentliche, weil in seinen Dimensionen unvergleichbare Rassismus ein deutscher war. Denn schließlich werden Schwarze nur klinisch sauber zu Tode gespritzt. Es bestätigt, daß Schuld bei dem einzelnen Individuum, nicht bei gesellschaftlichen Institutionen zu suchen ist. Das macht diese Schuld unabänderlich und erübrigt eine Veränderung politischer Zustände.
In Deutschland hingegen ist dieses Buch ein ausgemachter Skandal. Indem es die Schoah wieder zu ihren antisemitischen deutschen Wurzeln führt, berührt es einen großen Teil der heutigen Deutschen. Denn den Antisemitismus, so subtil und vermengt mit philosemitischen Elementen er sein mag, gibt es noch heute, gerade auch in gesellschaftlichen Milieus, von denen man dies nicht erwarten würde. Antijüdisch gefärbte Fauxpas in dieser Debatte in den letzten Monaten beweisen dies: Die Stigmatisierung des Buches als ein „jüdisches“ Buch, mit heftigem Bezug auf Goldhagens familiären Hintergrund, der Versuch also, es nicht sachlich, sondern ethnisch-biographisch zu disqualifizieren, ist gerade ein Beweis für diese auch unter vielen deutschen Intellektuellen tiefsitzenden Gefühle.
Andererseits führt das Buch auch zu einer narzistischen Kränkung. Die Deutschen werden zu einem Volk von hassenden Judenmördern deklariert, und das heute, wo sie doch meinen, sich von den nazistischen Eltern und Großeltern erfolgreich distanziert zu haben. Wenn Goldhagen denn nun Anfang September in Deutschland auf Tournee geht, wird der sorgfältig inszenierte Besuch gewiß ruhig und zivilisiert vonstatten gehen. Mit wechselseitigen Beteuerungen des Respekts, auch seitens Goldhagens über die liberal-demokratische deutsche Wiedergeburt. Die wichtigere Frage aber ist, welche Gefühle sich unter dieser Oberfläche guten Benehmens zusammenbrauen. Ob dieses Buch am Ende aufklärend wirkt oder die Glut verborgener Ressentiments aufs neue schürt, bleibt heute noch eine offene Frage.
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