: Sieben Tage im Leichenkühlraum
In den russischen Gefangenenlagern in Tschetschenien werden Menschen geprügelt, gefoltert, erschossen. In ausgehobenen Massengräbern suchen Angehörige nach ihren Verwandten ■ Aus Grosny Maxim Korschow
Musa Edelbajew, ein 38jähriger Bauer aus dem tschetschenischen Dorf Nowi Zantara, ist noch mal davongekommen. Seine Verwandten haben 7 Millionen Rubel zusammengekratzt (rund 1.400 Dollar) und ihn aus dem russischen Gefangenenlager freigekauft. Fast unversehrt ist er der Hölle entkommen. Geblieben sind nur ein paar Narben von den Handschellen und Striemen auf dem ganzen Körper.
Nach seiner Festnahme brachten russische Soldaten ihn nach Grosny, in das Lager der Hauptverwaltung des operativen Stabs. Dort war er zwei Wochen. „Sie schlugen uns Tag und Nacht. Während sie uns prügelten, hatten sie Gasmasken auf, um die Schreie nicht hören zu müssen. Zweimal wurden wir mit Elektroschocks gefoltert. Sie verlangten von uns, daß wir zugeben, Rebellen zu sein“, erzählt Musa. Den Freund Musas prügelten sie zu Tode und verkauften den Verwandten die Leiche für 1.500 Dollar. „Ich bin Bauer, ein friedlicher Mensch. Im ganzen Lager habe ich keinen einzigen Rebellen gesehen“, sagt Musa.
Sein Bekannter Israil Abdupachmanow war ebenfalls zwei Monate im Lager. „Das war wie eine zweite Geburt, als sie mich rausgelassen haben“, sagt Israil. Zum Andenken an die russischen Soldaten hat Israil zahlreiche Narben und Schwellungen auf Brust und Bauch. Die Soldaten hätten auf seinem Körper Reifen angezündet, um ihn zu dem Eingeständnis zu zwingen, ein tschetschenischer Rebell zu sein.
„Sie haben Hunde auf uns gehetzt“
Israil wurde verhaftet, als er einen Zug verpaßt hatte und zur Polizeistunde noch auf der Straße war. Die erste Nacht verbrachte er in einer Zelle. Dann sieben Tage in einem Kühlraum, in dem normalerweise Leichen aufbewahrt werden. „Sie brachten mich in verschiedene Lager. Ich verstand überhaupt nichts. Ich war die ganze Zeit gefesselt, meine Augen waren verbunden. Sie haben uns oft geschlagen und Hunde auf uns gehetzt“, berichtet Israil. Seine letzte Station war ein Lager auf dem Gebiet des ehemaligen Busdepots Nr. 1 in Grosny. Hier holten ihn seine Verwandten mit Hilfe von Vermittlern heraus, für 8 Millionen Rubel (1.600 Dollar).
Abdul-Wagap Schitajew, ein 41 Jahre alter tschetschenischer Geschäftsmann aus Sibirien, war nach Grosny gekommen, um seine Tante abzuholen. Er wurde am 1. Januar 1995 verhaftet. „Wir waren an Armen und Beinen gefesselt, wie zu Pakaten verschnürt. Sie verluden uns wie Vieh auf Lastwagen und brachten uns dann in Eisenbahnwaggons, die mit Stacheldraht umwickelt waren, nach Mosdok in Nordossetien, 100 Kilometer von Grosny entfernt. Wir blieben in den Waggons. Viele überlebten die Fahrt nicht, damals im März 1995“, sagt er. Abdul-Wagap Schitajew war einer der ersten, die lebend aus den Waggons in Mosdok herauskamen. Mit gebrochenen Rippen, das Gesicht blau geschlagen und die Beine von Bajonetten zerstochen.
Nach Mosdok wurden Menschen aus ganz Tschetschenien gebracht. Die einen mit Lastwagen aus Grosny, die anderen mit Hubschraubern. Zu diesem Zeitpunkt begannen die ersten schrecklichen Geschichten die Runde zu machen. Daß Menschen aus den fliegenden Hubschraubern hinausgestoßen würden. „Ja, das kommt vor, in Afghanistan habe ich das gemacht, und hier mache ich das genauso“, sagt der Hubschrauberpilot Sergej. „Ein schlechtes Gewissen habe ich dabei nicht. Was soll man denn anderes tun, wenn die ,Schwarzköpfe‘ unseren Männern die Nasen und Eier abschneiden und die Augen ausstechen?“
Im Frühjahr 1995 versuchten eine Kommission der OSZE und eine Gruppe russischer Menschenrechtler unter Leitung von Sergej Kowaljow die Wahrheit über die Waggons von Mosdok herauszufinden. „Nach tagelangen Verhandlungen haben sie uns hingelassen. Wir sahen halbleere Waggons, maskierte Wachsoldaten, und die Menschen waren irgendwie seltsam. Sie wiederholten immer wieder die zwei gleichen Sätze: ,Uns geht es gut, wir werden nicht geschlagen.‘ Wie viele verhaftet, wer wieder freigelassen oder woanders hingebracht worden ist, weiß keiner“, sagt Juli Pybakow, Abgeordneter der russischen Duma und enger Mitarbeiter von Kowaljow.
Im März 1995 wurden auf dem russischen Friedhof in Grosny, unweit der Konservenfabrik, die in ein Lager umgewandelt worden war, Massengräber ausgehoben. Viele Tschetschenen, mit Tüchern über der Nase gegen den Verwesungsgestank geschützt, suchten dort nach ihren Angehörigen. Die russischen Vertreter hatten behauptet, es handele sich bei den Toten um Opfer von Bombenangriffen. Viele fanden Mitglieder ihrer Familien. „Dort war auch mein Bruder Puslanschik, 18 Jahre alt“, erzählt die 22jährige Rosa Sarajewa mit tonloser Stimme. Die aufgedunsene und verstümmelte Leiche ihres Bruders hatte sie an der Kleidung erkannt. „Zwei Wochen vorher war er verhaftet und ins Lager gebracht worden“, sagt Rosa. „Uns hatten sie immer gesagt, daß er nicht im Lager sei. Und dann habe ich ihn hier gefunden.“
Seit Anfang 1995 wurde in den Lagern immer häufiger gefoltert: Prügel, Elektroschocks, auch Erschießungen. Videokassetten mit Aufnahmen der Opfer wurden dem Internationalen Gerichtshof in Stockholm übermittelt, der sich im Dezember 1995 mit dem Thema befaßte.
„Wir haben viele Leichen und Knochen sichergestellt, die wir in der Nähe der Lager gefunden haben“, sagt der Moskauer Andrej Paramonow, Mitglied der Stiftung „Glasnost“. Die Knochen und Leichen bewahrt er als Beweismittel auf. „Wir haben schon mehrfach versucht, die Knochen in den staatlichen Laboratorien untersuchen zu lassen. Bisher wurden wir immer unter verschiedenen Vorwänden abgewiesen. Unsere Regierung hat eben kein Interesse daran, daß jemand ihre Verbrechen aufspürt“, sagt Andrej.
Blinde Betonmauern, Eisentore, alle Fenster sind mit Ziegeln zugemauert. Überall Stacheldraht. Auf dem Dach liegen Scharfschützen. Die Zugänge zu dem Gebäude sind vermint: das Lager auf dem Gelände des ehemaligen Busdepots in Grosny. „Wie haben den Befehl, auf jeden zu schießen, der versucht, das Lager von außen zu filmen oder zu fotografieren“, sagt ein Wachsoldat zu den Journalisten der taz und des Fernsehsenders Pro 7.
Im Inneren des Gebäudes, in einer großen Fabrikhalle, stehen Schützenpanzer. Ein kleiner Teil des Hofs ist mit Stacheldraht abgetrennt, für die Häftlinge. Achtzehn Gefangene befinden sich hier, zwei von ihnen Russen. Zu sechst sind sie in fensterlosen Zellen eingepfercht. Beim Erscheinen des Wachsoldaten springen alle ruckartig auf, die Arme hinter dem Kopf, das Gesicht zur Wand. Sechs Gefangene dürfen in den Hof. „Hände auf den Rücken, die Augen auf den Boden. Ein Schritt zur Seite, und ich schieße“, brüllt Kommandant Igor.
Er ruft die russischen Gefangenen zu sich. Sascha nähert sich langsam dem Stacheldraht und nimmt sofort die Hände hinter den Kopf. „Der hat bei Dudajew Kühe gehütet, das Mistvieh!“ schreit Igor. Sascha stammelt vor sich hin und zittert. Der Wachsoldat erzählt, daß Sascha nach Tschetschenien gekommen sei, um sich etwas dazuzuverdienen. In einem Dorf hätte er auf dem Feld gearbeitet und Kühe gehütet. Einmal hätte er dort Dudajew gesehen. Schon einen Monat sei er im Lager und soll für weitere Ermittlungen nach Rußland gebracht werden.
Der junge Tschetschene Abdul hat Angst, den Kopf zu heben und etwas zu sagen. Auf Befehl beginnt er zu sprechen. Er weiß angeblich nicht, wo und wie er verhaftet wurde und seit wann er im Lager ist. Dessen Existenz wurde inzwischen offiziell eingeräumt. Vor kurzem äußerste sich der russische Innenminister Andrej Kulikow zum ersten Mal dazu. „Ja, es ist wahr. In Grosny gibt es das Gefangenenlager, Nr. 1. Dort werden einige Leute festgehalten, aber mit ihnen passiert nichts Schlimmes. Bitte, kommen Sie und sehen Sie sich alles an!“ forderte Kulikow Journalisten lächelnd bei einer Pressekonferenz auf.
Der zweite Ort des Grauens in Grosny: das Gelände einer ehemaligen Fabrik. Das gleiche Bild wie vorher: Stacheldraht, Minen, Gewehrläufe. Hier sind einige Mitglieder von Spezialeinheiten stationiert, die ständig die Viertel von Grosny nach Minen und Rebellen durchkämmen. Hier halten sich auch die Ermittler auf, die die Fälle der Verhafteten untersuchen. Im Keller der Fabrik befinden sich einige Zellen. Dort wird, nach Aussagen ehemaliger Gefangener, bestialisch gefoltert.
„Mit diesem Dreckspack werden wir fertig“
„Ja, mit diesem Dreckspack werden wir schon fertig. Das ist unsere Arbeit“, sagt der Ermittler Slawa aus St. Petersburg. Zu fünft sitzen sie hier zusammen und trinken. Eine Flasche Wodka nach der anderen. Sie haben die ganze Nacht „gearbeitet“. „Diese ,Schwarzärsche‘ tun doch alle nur so friedlich. Und nachts holen sie ihre Gewehre und versuchen, uns umzubringen. Ich hasse diese Dreckskerle. Wir erschlagen sie alle!“ brüllt Slawa. Seine Freunde Mischa und Gena grinsen. „Manchmal setzen wir einem Gefangenen eine Gasmaske auf und schlagen ihn zusammen. Das heißt bei uns Chemiealarm. Oder wir brechen ihnen mit einer Zange die Nase und die Finger. Manchmal spielen wir auch ein bißchen mit dem Feldtelefon. Du steckst einfach die Kontakte in den Mund und den Arsch. Dann drehst du die Scheibe... Da gesteht jeder alles“, lacht Gena.
Hasan Bajew, Facharzt für Kiefer- und Gesichtschirurgie im Krankenhaus Nr. 9 von Grosny hat viele Lagerinsassen behandelt. „Viele haben Knochenbrüche, große Hämatome und am ganzen Körper schreckliche Narben von der Folter. Bei einigen sind die Arme und Beine von Hunden völlig zernagt, die Menschen haben unzählige Bißwunden. Ihr psychischer Zustand ist schlecht. Sie können nicht schlafen und schreien in der Nacht. Sie bräuchten eine spezielle Behandlung, die viele hier nicht bekommen können“, sagt Hasan Bajew.
„Die Lager in Rußland am Ende des 20. Jahrhunderts sind genau so ein schweres Verbrechen wie die Lager unter Stalin“, sagt Sergej Prigorjans, Vorsitzender der Stiftung Glasnost, und fügt hinzu: „Diese Verbrechen müssen vor ein internationales Gericht.“
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