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„Eine Zeitung sollte wie ein Freund sein“

Sie schrieb ihre Artikel wie Liebesbriefe: Die tschechische Journalistin Milena Jesenská stand lange im Schatten Franz Kafkas. Zu ihrem heutigen 100. Geburtstag erscheinen ihre Briefe und die Gestapo-Akte über ihre Verhaftung  ■ Von Diemut Roether

In den Beschreibungen ihrer Zeitgenossen erscheint diese Frau als übernatürliches Wesen: „Ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe.“ – „Der gütigste und größte Mensch, dem ich je begegnet bin.“ – „Die vielleicht Begabteste unter den jungen tschechischen Journalisten der zwanziger Jahre.“ – „Milena, das war die große Welt.“ Von Franz Kafka über ihren Freund Walter Tschuppik, den Redakteur Karel Hoch bis zur Journalistin Hana Šklibová scheint Milena Jesenská alle, die sie kennengelernt haben, bezaubert und in ihren Bann gezogen zu haben. Die tschechische Journalistin und Übersetzerin, die Geliebte Kafkas, war zu ihren Lebzeiten in ihrer Heimatstadt berühmter als der Schriftsteller, der ihr die „Briefe an Milena“ schrieb. Sie war eine Persönlichkeit, die „bewundert wird oder abgelehnt. Nur mit Gleichgültigkeit begegnet man ihr nie“, schreibt ihre Biographin Alena Wagnerová. Die Freunde und Feinde Milenas, sie alle trugen mit ihren Äußerungen bei zum „Mythos Milena“, der sich bald nach ihrem Tode 1944 um ihre Person rankte. Bis die tschechischen Kommunisten sie erst als Abtrünnige und „Trotzkistin“ verfemten und dann totschwiegen.

Erst in den 60ern begann in der Tschechoslowakischen Republik die Wiederentdeckung der Milena Jesenská, im Westen noch später. Jetzt kommt die Vielbeschriebene endlich selbst zu Wort. Nicht in ihren Zeitungsartikeln, von denen einige bereits vor Jahren im Verlag Neue Kritik erschienen sind, sondern in ihren Briefen, die sie in den Zwanzigern und Dreißigern an Freunde und Kollegen geschrieben hat. Alena Wagnerová hat die Briefe Milena Jesenskás – es sind alle, die von ihr erhalten sind – herausgegeben und mit kurzen einordnenden Kommentaren versehen. Leider sind viele von Milenas Briefen verloren gegangen: die an Kafka ebenso wie die, die sie aus Wien an ihre beste Freundin Staša Jilovská geschickt hat.

Milena Jesenská war eine leidenschaftliche Briefeschreiberin – so wie sie eine leidenschaftliche Journalistin war. Über ihre Feuilletons und Reportagen hat sie einmal in der Národni listy (Nationalzeitung) geschrieben: „Das einzige, was ich wirklich schreiben kann, sind Liebesbriefe, und letzten Endes sind alle meine Artikel nichts anderes.“ Sie schreibt, als würde sie zu Freunden reden, und oft vermißt man den anderen Part des Zwiegesprächs: die Antworten, auf die sie sich in ihrer Korrespondenz immer wieder bezieht. In diesen Briefen zeigt sie ihre Gefühle ohne Vorbehalt, manchmal bricht ihr Temperament durch, dann wieder wird sie fordernd und unwiderstehlich, wenn sie ihre Freunde oder Kollegen um etwas bittet oder sie von einer Idee überzeugen möchte. Entsprechend enttäuscht ist sie von „dieser wohlwollenden, liebenswürdigen, lauwarmen Freundschaft“, die sie dem Journalisten Willi Schlamm in einem ihrer Briefe an ihn vorhält: „In einem Rudel Deiner Freunde zu stehen ist kein Glück, Willi.“

Schwärmerei, Ironie und Spott

Es sind vor allem diese Briefe an den geliebten Freund Willi Schlamm, der mit seiner Frau Stefanie 1938 aus Prag emigrierte, in die Milena Jesenská alles von sich hineinlegt: ihre Leidenschaft für ihre Arbeit bei der Wochenzeitung Pritomnost (Gegenwart), ihre Sehnsucht nach den beiden geliebten Menschen, ihre Verzweiflung über die politische Lage und die Bedrohung ihrer tschechischen Heimat durch das „Dritte Reich“. Aber auch Ironie und Spott – Sticheleien, die Willi Schlamm zuweilen tief getroffen zu haben scheinen, wie Milenas Entschuldigungen in den folgenden Briefen ahnen lassen.

Die Briefe Milenas aus den Zwanzigern sind unbeschwerter. An die Redakteure Scheinpflug und Hoch schreibt sie aus Wien wie eine eigenwillige, etwas verwöhnte Tochter an einen wohlwollenden Vater: „Sie kennen sicher das Fieber, das einen befällt, wenn man einen guten Plan hat und gleichzeitig Angst, daß er nicht gelingt? Also: Ich schreibe im absoluten Fieber. Ich bitte Sie nur: Antworten Sie gleich, quälen Sie mich nicht.“ Ans Ende dieses Briefes, in dem sie darum bittet, für die Weihnachtsausgabe der Národni Listy Robert L. Stevensons Novelle „Markheim“ übersetzen zu dürfen, setzt sie ein unwiderstehliches „Lieber, goldiger, einziger, geliebter, teurer, gütiger, unbeschreiblich gütiger Herr Scheinpflug“. Ob Scheinpflug sich dieser Charmeoffensive ergeben hat, ist leider nicht überliefert.

Andererseits legt sie ungeniert den Finger auf die Wunde, wenn sie den Herren wie nebenbei ihre Gedanken über die Zeitung Národni Listy, für die sie arbeitet, mitteilt: „Alles an dem Blatt ist pathetisch, so würdig wie die aufgeblähte Brust eines bürokratischen Würdenträgers. Sie ist tödlich langweilig, aber noch schlimmer als das, sie ist tot.“ Was sie den Redakteuren empfiehlt, sollte auch heute noch in jedem Journalistenhandbuch stehen: „Sie brauchen mehr Leben und weniger Politik. Die Menschen wollen über alles mögliche lesen. Sie wollen eine Zeitung als Freund.“ Die Briefe spiegeln die unterschiedlichen Lebensphasen Milenas wider: die kindliche Schwärmerei der Tochter aus gutem Hause für ihre Lehrerin Albina Honzákova und die Schauspielerin Marie Hübnerová; ihre Euphorie in den frühen Zwanzigern, als sie in Wien beginnt zu übersetzen und Feuilletons zu schreiben; ihren permanenten Geldmangel und die Suche nach neuen Geldquellen; ihre schwere Krankheit nach der Geburt ihrer Tochter Jana, als sie ihre Schmerzen mit Morphium betäuben muß und süchtig wird; ihre kurze Begeisterung für die Kommunistische Partei Tschechiens, von der sie sich jedoch bald wieder abwendet, weil sie die Parteifunktionäre und Stalinisten verabscheut; und ihre zunehmende Verzweiflung in den späten dreißiger Jahren, als Hitlers Truppen erst das „Sudetenland“ und dann die „Rest-Tschechei“ besetzen. Aber auch ihren Widerstand, ihre Hilfe für die Freunde und Emigranten in Not, ihr Aufbegehren gegen die Mutlosigkeit und das Abstumpfen gegen den Schrecken; und immer wieder ihre Verbundenheit mit der tschechischen Heimat, ihre Liebe zu den vielen Kulturen Mitteleuropas, die sie letztlich davon abhält, zu emigrieren.

Aus Milena Jesenskás letzten Lebensjahren im Konzentrationslager Ravensbrück sind keine Briefe erhalten. Hier versucht Marie Jiráskovás „Kurzer Bericht über drei Entscheidungen“ die Lücke zu schließen. Die tschechische Literaturwissenschaftlerin hat die Gestapo-Akte über die Verhaftung Milena Jesenskás und Zeugnisse von Mithäftlingen ausgewertet und zusammengestellt, was es an Dokumenten über die letzten Lebensjahre der Journalistin und tschechischen Widerstandskämpferin gibt. Am 12.November 1939 war Milena Jesenská eher zufällig festgenommen worden. Die Gestapo hatte sie im Verdacht, für die illegale Zeitung Vboj zu arbeiten und Kontakte zur geheimen Widerstandsorganisation „Obrana národa“ zu haben. Glücklicherweise konnte man sie nicht überführen; bei der Hausdurchsuchung wurden die Ausgaben der Vboj, die in der Wohnung der Journalistin lagerten, nicht gefunden. Da sie in den Verhören alles, was man ihr vorwarf, abstritt, hatte die Gestapo wenig Beweise gegen sie vorzubringen. Die deutsche Oberstaatsanwaltschaft ordnete schließlich ihre Entlassung an, was die Gestapo jedoch nicht daran hinderte, sie in „Schutzhaft“ zu nehmen und nach Ravensbrück zu bringen. Von dort stammen die letzten Bilder, die andere von Milena gezeichnet haben. „Sie strahlte eine starke Individualität aus. Man spürte, daß ihr Geist sich nicht unterwerfen will und den schon angegriffenen Körper beherrscht“, erinnert sich die Tänzerin Nina Jirsiková. Ihre Mitgefangenen nennen die Frau mit der Häftlingsnummer 4714 „Zarewa“, die Herrscherin, oder auch „4711“. Milena Jesenská paßt sich der von der Komintern vorgegebenen Lagerideologie nicht an. Von den Kommunistinnen im Lager wird sie darauf als „Trotzkistin“ angefeindet. Ihre Mitgefangene Margarete Buber-Neumann schrieb über sie: „Milena wurde nie ein ,Häftling‘, sie konnte nicht abstumpfen und brutal werden wie so viele andere.“

An Willi Schlamm hat Milena Jesenská geschrieben: „Dem Herrgott wird es niemals gelingen, mich fertigzumachen, dem Armen. Und wenn Du neunzig wirst, werde ich über hundert Jahre alt sein. Dann werden wir gemeinsam einen Artikel über die Jugend schreiben.“ Am 10.August wäre Milena Jesenská 100 Jahre alt geworden. Am 17.Mai 1944 ist sie im Konzentrationslager Ravensbrück an den Folgen einer Nierenoperation gestorben.

Milena Jesenská: „Ich hätte zu antworten, tage- und nächtelang – Die Briefe von Milena“. Bollmann Verlag, Mannheim 1996, 240 Seiten, 39,80 DM

Marie Jirásková: „Kurzer Bericht über drei Entscheidungen – Die Gestapo-Akte Milena Jesenská“. Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1996, 130 Seiten, 28DM

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