: 7.000 Russen in Grosny eingekesselt
■ Am Tag der Amtseinführung Jelzins erobern Rebellen tschetschenischen Regierungssitz. Nach diesem Propagandaerfolg bereiten sie angeblich den Rückzug vor. Russischer Generalstab: „Lage außer Kontrolle“
Moskau (taz) – Die tschetschenischen Freischärler haben gestern das Gebäude der moskauhörigen Regierung in Grosny erobert. Wenige Minuten vor der Amtseinführung Präsident Jelzins im Kreml meldete der Stab der Rebellen Vollzug. Damit hatten die Unabhängigkeitskämpfer erneut einen Propagandasieg errungen. Einheiten der russischen Armee mußten sich unter dem Druck der Tschetschenen weiter aus dem Stadtgebiet zurückziehen. Auch den zur Verstärkung herbeigerufenen Truppen gelang es nicht, den Widerstand der Tschetschenen zu brechen. In ersten Reaktionen gestand man im russischen Stab ein, die Kontrolle über die Situation verloren zu haben. Siebentausend russische Soldaten seien vom Gegner eingeschlossen worden: „Die in Grosny umzingelten Truppen versuchen nicht einmal, den Gegner anzugreifen, sie leisten lediglich passiven Widerstand“, hieß es in einer Stellungnahme aus dem Stabsquartier der Russen. Allerdings gab es auch andere Einschätzungen: Der russische Vizekommandeur Konstantin Pulikowskij sagte: „Die Lage in Grosny ist kompliziert, aber unter Kontrolle.“
Über die Verluste unter der Zivilbevölkerung liegen keine Informationen vor. Wer die Stadt nicht am Vorabend der Kämpfe verlassen hatte, lebt seither in Kellern. Wasser- und Stromversorgung wurden schon zu Beginn der Offensive vor vier Tagen unterbrochen. Die Krankenhäuser sind überfüllt. Sie können ihre Aufgabe ohnehin nicht mehr wahrnehmen, da ihnen die Medikamente ausgegangen sind. Die hygienischen Zustände erschweren die Hilfsmaßnahmen, da selbst die Hospitäler weder über Wasser noch Strom verfügen und auch Nahrungsmittel nicht herangeschafft werden können.
Am Rande der Stadt nahmen die Rebellen auch den Stützpunkt am Flughafen Severny unter schweren Beschuß und erschwerten die Evakuierungsmaßnahmen des Gegners. Angeblich will die Armee Kranke und Alte noch im rechten Moment in Sicherheit gebracht haben. Am Morgen sendete ein Journalist des russischen Fernsehens einen dramatischen Hilferuf: „Ich übermittle das SOS-Signal über freie Wellen“, sagte der Fernsehkorrespondent Abrek Baikow und fügte hinzu, daß sein Morgenbericht womöglich der letzte sein werde. Ein Rundfunkkollege beklagte: „Wir haben den Eindruck, man hat uns vergessen.“ Eine Gruppe von Journalisten hielt sich seit Beginn der Offensive in einem Hotel auf, das in dem von Rebellen kontrollierten Gebiet liegt. Nach russischen Angaben gelang es einer Spezialeinheit der Truppen des Innenministeriums Omon indes, die Journalisten zu befreien.
Außerhalb Grosnys errichteten die Tschetschenen eine Straßensperre an der südwestlichen Ausfallstraße und legten das Logistikzentrum des russischen Innenministeriums lahm. In Argun und der Stadt Gudermes an der Grenze zur Republik Daghestan wollen die Separatisten ebenfalls Herr der Lage sein.
Gegen Abend flauten die Kämpfe ab. Angeblich bereiten sich die Rebellen auf den Rückzug vor. Die Vorgaben ihrer militärischen Führung haben sie erfüllt: Größtmögliche Aufmerksamkeit weltweit – Gesichtsverlust für den Gegner. Auf Dauer können die Rebellen, die ihre Zahl auf 3.000 beziffern, Grosny nicht gegen die russische Militärmaschinerie und deren materielle Überlegenheit halten. Daher ist es wahrscheinlich, daß sie sich nach dem blutigen Intermezzo wieder in die Berge zurückziehen, um eigene Verluste gering zu halten. Der Gegner weiß wiederum, daß er in Grosny nur vorübergehend „geduldet“ ist.
Klaus-Helge Donath Seite 8
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