: Die Stadt von Sinnen
■ Ein Kommentar zur momentanen Häufung „sinnlicher“ Ausstellungen
Im Sci-Fi-Film Soilent Green werden auf der zerstörten Erde sprudelndes Wasser und grüne Wiesen nur noch den Todeskandidaten im Surround-Kino zur Sterbezeremonie gezeigt. Es scheint, wir sind schon ein gutes Stück dahin vorangekommen: Alle sitzen den lieben langen Tag vor dem Computer, um genug Geld zu verdienen, die schöne lange Nacht virtuell mit der ganzen Welt zu kom- munizieren und auch den Kindern mangelt es dramatisch an Sinneserfahrungen, versichern Pädagogen.
Gegen solche Sinnenwüste wird jetzt in Hamburg aber ordentlich Front gemacht: Deutschlands größter Konzern aktiviert im Stadtpark mit seiner mobilen Mitmachausstellung Kinder zum Kontakt mit Objekten, im stilwerk regen Designer Erwachsene an, 123 Materialien zu erfühlen, bei der Ausstellung Sinnenfinsternis gibt es im absoluten Dunkel Tastobjekte, Duftarrangements und Schmeckskulpturen und Sinn-Fonie führt in einem Bunker vor, wozu alle fünf Sinne da sind.
Den Filmtitel Sinn und Sinnlichkeit im Kopf wird Sensibilität vermarktet. Als ob es nicht im ganzen Kulturbetrieb von Augenlust zu Tanzekstase schon immer auf die Sinne ankäme. Noch bei noch so verkopfter Kunst müssen die Eindrücke schließlich erst einmal das Gehirn erreichen.
Zugegeben, die Augen haben heute einen überproportionalen Anteil daran. Der Griff zwischen die Beine ist nur noch im Musikvideo pc und auf dem Rathausmarkt ist in zwei Containern die korrekte Benutzung des Präservativs zu erlernen. Lösen sich schließlich alle Probleme mangels Menschen sowieso und an Ende beamt als letzter Mensch ein 178jähriger, vollverkabelter Wissenschaftler ein geiles Cyberbild von einst in den Weltraum?
Wohl kaum. Solange Menschen noch über den Mund Nahrung aufnehmen und zu Scheiße verarbeiten, halten wir die These vom Sinnenverlust für Werbeunfug. Und immer noch ist mehr Erlebnisqualität in einem gestossenen Ellenbogen als in den meisten pädagogischen Installationen. Und mal das Kind oder die Katze zu streicheln spart nebenbei auch Gebühren und Eintrittsgelder.
Hajo Schiff
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen