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Die verlorene Unschuld

Alle sind sich einig, daß sexuelle Gewalt gegen Kinder ein Verbrechen ist. Warum wird sie von Gesellschaften dennoch geschützt und gefördert?  ■ Von Karin Gabbert

Im Januar 1984 kamen fünf Kinder in den Flammen eines Bordells in Pukhet in Thailand um. Die Feuerwehrleute waren schockiert, als sie entdeckten, daß die Kinder in einem abgeschlossenen Raum mit Ketten an ihre Betten gefesselt waren. Mitte der 80er Jahre weckten eine Reihe von ähnlichen Fällen die Aufmerksamkeit für den in Asien um sich greifenden Kinderhandel. Daraufhin begann 1990 die asiatische Ecpat-Kampagne gegen Kinderprostitution im Tourismus. Menschen- und Kinderrechtsgruppen sowie Frauenorganisationen in aller Welt haben sich der Kampagne angeschlossen und das Thema in den letzten sechs Jahren in das öffentliche Bewußtsein gebracht. Der „Erste Weltkongreß gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern zu kommerziellen Zwecken“, der vom 27. bis 31. August in Stockholm stattfinden wird, ist ihr vorläufiger Höhepunkt.

Doch allen Aufklärungskampagnen zum Trotz hat sich der milliardenschwere Sex-Weltmarkt ausgeweitet. Man geht davon aus, daß jährlich mehr als eine Million Kinder in die Prostitution gezwungen, für den sexuellen Mißbrauch verkauft oder für Pornographie benutzt werden. Zwar gab es in den letzten Jahren auch Fortschritte: In Deutschland beispielsweise kann seit einer Strafgesetzänderung 1993 jeder Deutsche, der im Ausland Kinder mißbraucht, mit fünfzehn Jahren Haft bestraft werden. Dieses Gesetz wird allerdings genausowenig umgesetzt wie die UN-Kinderrechtskonvention. Seit 1993 ist nur ein einziger deutscher Sextourist verurteilt worden. Dabei zeigen Untersuchungen, daß von den 400.000 deutschen Sextouristen, die jährlich auf Reisen gehen, etwa 5.000 Kinder mißbrauchen.

Wieso geht die Ausbeutung von Kindern immer weiter, obwohl sich alle einig sind, daß es sich hier um ein Verbrechen handelt, durch das Millionen Kinder ihrer Rechte, ihrer Würde und ihrer Kindheit beraubt werden; obwohl es rechtliche Möglichkeiten gibt, die Kinderprostitution zu verhindern? Was sind das für Gesellschaften, die sexuelle Gewalt gegen Kinder verschweigen, schützen und fördern? Alberto Godenzi, Professor von der Schweizer Universität Fribourg hat dazu einige aufschlußreiche Thesen formuliert. Gesellschaften, die sexuelle Gewalt gegen Kinder zulassen und fördern, hätten ein ablehnendes Verhältnis zum Leben, zur Sterblichkeit und zum Tod, meint er unter anderem.

Kinder sind der Inbegriff des Lebens. An ihnen lassen sich noch wenig Spuren der Sterblichkeit ablesen. Selbst in der feindlichsten aller Lebenswelten erfinden Kinder Spiele. Diese scheinbar unerschöpfliche kreative Energie beschreibt James Garbarino in seinem Buch über Kinder in Kriegssituationen. Gesellschaften mit einem negativen Verhältnis zum Tod neiden den Kindern diese Lebendigkeit, meint Alberto Godenzi. Aus diesem Grund stempeln sie Kinder zu kleinen Erwachsenen – zu undisziplinierten kleinen Erwachsenen. Um das Sterben zu überlisten, versuche man, sich Leben anzueignen, und rühme sich der eigenen Jugendlichkeit. Mildere Formen von Eifersucht und Neid gegenüber Kindern führten dazu, sich mit den eigenen Kindern überzuidentifizieren oder sie als Eigentum zu betrachten. Schwere Formen schließlich führten zu Folterungen, Morden und sexueller Ausbeutung.

Auch der Sexualforscher Friedemann Pfäfflin von der Uniklinik Ulm sieht Überidentifikation und Rache als mögliche Beweggründe: „Man will dem Kind etwas an Unschuld nehmen, was man selbst verloren hat“, meint er. Bei Prozessen, in denen er als Gutachter auftrat, behaupteten die Täter immer, sie hätten dem Kind etwas Gutes getan. So rechtfertigte sich ein Mann, er habe dem zwölfjährigen Jungen, den er mit aufs Hotelzimmer genommen habe, zu essen gegeben, ihm Fußballschuhe und Kleidung gekauft. „Es ist eine völlige Verkennung der Wirklichkeit, überlagert durch die eigenen Bedürfnisse“, meint Pfäfflin. Bei der Eindämmung des Sextourismus sei die Forschung nach den Motiven der Täter aber marginal. Vor allem müsse die Stellung der Kinder gestärkt werden sowie ihre Fähigkeit, sich auch gegen die Eltern zu wehren.

Auch Godenzi führt vor Augen, daß sich der Sextourist nach dem Beschmutzen der Kinder wie nach einem Bad im Jungbrunnen fühlt: Er ist der gönnerhafte Ausbeuter, der sich als Richter über Leben und Tod fühlt. Seine Verdrängungsleistungen seien aber nicht individuell, sondern gesellschaftlich geradezu institutionalisiert. Würde nur Herr X auf der Suche nach Kindern nach Südostasien fliegen, wäre er leicht zu bremsen. Da aber Männerhorden ordentlich in Flugzeuge verpackt werden und unbeschadet über Kinder herfallen, kann es Herrn Y nur recht sein, was Herr X tut. Gesellschaften, die sexuelle Gewalt gegen Kinder zulassen, erlauben Männerbünden auch sonstige zivile Übertretungen von Normen. Die jettenden Männergruppen fühlten sich dadurch eins, weil sie die sexuelle Gewalt gegen Kinder, von den Institutionen abgesegnet, in ihren Ferien ausüben können. Es sei allerdings völlig unvorstellbar, so Godenzi, daß ein solch epidemisches Verhalten toleriert würde, stellte es nicht einen derart wichtigen ökonomischen, politischen und ideologischen Faktor dar.

Godenzi sieht vor allem in Armut und Erwerbslosigkeit Faktoren struktureller Gewalt, die auch zu sexueller Gewalt gegen Kinder führen können. Um einen Ausweg aus dem Elend zu finden, verkauften Eltern ihre Kinder oder vermieteten Kinder ihre Körper selbst. Seien Kinder nicht willig, wendeten Eltern psychische Gewaltformen an, zum Beispiel: „Wenn du nicht hilfst, verhungern wir!“ Und wenn dieser Druck nicht ausreiche, werde körperliche Gewalt eingesetzt. Damit schließt sich der Kreis der Gewalt gegen Kinder. Eine Studie unter 90 kulturellen Gruppen hat ergeben, daß die Mißhandlung von Kindern durch Eltern die zweithäufigste Form der Gewalt im „privaten Bereich“ ist, nach den Mißhandlungen von Ehefrauen durch Ehemänner.

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