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Kein Mitleid für Scharping

SPD-Fraktionschef reist durch den niedersächsischen Kommunalwahlkampf  ■ Aus Ostfriesland Markus Franz

Morgens um neun sieht er unverschämt gut aus. Blütenweißes Hemd, leichte Segelbräune, wie die Morgensonne den Frühnebel verschwinden läßt, putzt ein breites Strahlen die Schattenwölkchen vergangener Monate aus seinem Gesicht. Übermütig kickt er Tannenzapfen, ruft unvermittelt mit rollendem rr „Calamares“, lacht laut und betont, wann immer sich die Gelegenheit ergibt: „Mir geht's gut! Die Politik macht mir wahnsinnig viel Spaß!“ Da hat man – wie erleichternd – keinerlei Mitleid mit ihm. Rudolf Scharping, der Fraktionsvorsitzende der SPD, ist zum dritten Mal auf Sommerreise. Diesmal durch Ostfriesland, weil bald in Niedersachsen Kommunalwahlen sind.

Spätestens nachts, so um halb eins, wenn er nach Gesprächen mit Vertretern der Binnenschifferverbände in Haren und einem Besuch der Transrapid-Versuchsanlage in Lathen, nach Stippvisiten bei der evangelisch-reformierten Kirche in Leer, der Ostfriesen-Zeitung, den Thyssen Nordseewerken in Emden und der Küstenfunkstelle Norddeich Radio (puuh) – nachts, wenn der SPD-Fraktionschef also nach rund 200 Kilometern Fahrt vor seiner ersten Mahlzeit des Tages sitzt, schimmert der rührend bemühte, etwas hilflos wirkende Scharping wieder durch. Da stößt er mit dem Zeigefinger in die Luft und gibt Sätze von sich wie: „Ich bin ein realistischer Optimist oder ein optimistischer Realist – das ist egal!“ Oder: „1995 habe ich als erster gesagt, ich mache Fehler. Es ist nicht so, daß ich sage, ich habe keine Fehler gemacht.“ Rudolf Scharping ist in der Defensive, immer noch, auch wenn es sich im Windschatten seines Nachfolgers, dem neuen Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine, besser leben läßt. Bisweilen legt sich die Erinnerung an das vergangene Jahr wie ein Schatten auf Gemüt und Gesicht. Auf der Sommerreise 95 wirkte Scharping wie ferngesteuert, das Gesicht war wachsfarben. „Rudolf, winken!“ sagte damals sein Pressesprecher zu ihm, als Scharping sich verkrampft seinen Weg durch die Menge bahnte. Eine Zeitschrift zitierte dies, ohne deutlich zu machen, daß der Ausspruch ironisch gemeint war.

In der Erinnerung an soviel Erlittenes kommt gelegentlich der unverfälschte Scharping hoch. „Im letzten Jahr habe ich versucht, so viele Inhalte mit anderen abzustimmen, daß ich meine eigenen Gedanken am Ende nicht mehr erkannt habe.“ Das ist einer der wenigen Sätze, die nicht immer wieder von ihm zu hören sind, einer, der kein Programm ist. Programm ist dagegen: „Mir geht es gut, seit meinem Fahrradunfall mit 70 Sachen ohne Helm, bei dem ich nur knapp am Tod vorbeigekommen bin, sehe ich alles gelassener“, Schluß mit der „eitel Fassade“ der Politiker und vor allem: vorerst kein Anspruch auf die Kanzlerkandidatur. Ob gerade letzteres stimmt? Auffallend häufig zitiert er sich selbst. „Wie ich im Oktober 1994 schon gesagt habe... Und? Habe ich nicht recht behalten?!“ Tröpfchenweise bringt er seine Kurventheorie ins Spiel. Soll heißen: Mit der SPD ist es seit der Wahl von Helmut Schmidt als Bundeskanzler fast ständig bergab gegangen. Nur er als Kanzlerkandidat habe 1994 zugelegt, um 2,9 Prozent. Da sei es jetzt doch selbstverständlich, daß die SPD in zwei Jahren stärkste Partei werden wolle. Legt Scharping die Latte bewußt hoch, um seinen Nachfolger als Kanzlerkandidaten zu düpieren? Meldet er wieder Ansprüche an, wenn schon nicht für 1998, so für die Bundestagswahl im nächsten Jahrtausend? Oder gibt er einfach nur dem verständlichen Bedürfnis nach, seine Zeit als Parteivorsitzender schönzureden?

An Begeisterung für sich selbst fehlt es ihm nicht. Bei Daimler- Benz Aerospace (Dasa) in Nordenham sagt er in einem Pressegespräch: „Beim Transrapid habe ich klare Kante gemacht. Und jetzt hier.“ Dazu stößt er ein langgezogenes „Uuaah“ aus, als erlebe er gerade orgastische Freuden. Klare Kante heißt bei Scharping: 1. Luft- und Raumfahrt sind technologische Schlüsselindustrien, die erhalten bleiben müssen. 2. Dafür müssen faire Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden. Die klare Kante beim Transrapid: „Ich bin für die Technologie, aber gegen die Versuchsstrecke Hamburg–Berlin.“ Bei den notleidenden Emdener Thyssen-Werken, die unter anderem Kriegsschiffe herstellen, heißt klare Kante: die Verläßlichkeit des Haushalts herstellen, damit die Firma weiß, ob sie mit öffentlichen Aufträgen rechnen kann. Weniger klar ist, wie sich das mit anderen seiner Aussagen verträgt: „Wir müssen Subventionen abbauen. Protektionismus geht schief.“

Aber die Menschen interessieren sich sowieso nur für seinen Bart. Wie Henri Nannen, der nach einer geistigen Ursache dafür fragt, daß der Bart ab ist. Gerührt, wie Scharping über seinen Besuch bei dem großen alten Zeitungsmann ist, blitzt wieder diese unverkrampfte Ehrlichkeit auf: „Ich bin freier geworden. Wir mauern uns nicht mehr ein.“

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