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Wandelnde Investitionen für das Heimatwohl

Westafrika braucht die Migranten in Europa. Frankreichs Abschiebungen stoßen auf wachsenden Unmut  ■ Von Dominic Johnson

Es war ein historischer Bruch. Als der Charterflug aus Paris mit abgeschobenen Afrikanern, ein Airbus der französischen Armee, mitten in der Nacht zum vergangenen Sonntag auf dem Flughafen der malischen Hauptstadt Bamako landete, war ein hochrangiges Empfangskomitee angereist. Vertreter aller großen politischen Parteien Malis, der Gewerkschaften und der Regierung wollten ihren Ärger über die brutale Räumung der illegalen afrikanischen Immigranten aus der Pariser Kirche Saint-Bernard zwei Tage zuvor ausdrücken und die vier Kirchenbesetzer im Flugzeug begrüßen. Als die Abgeschobenen ausstiegen, berichteten sie, wie sie in Frankreich von der Straße weg verhaftet worden waren, wie sie zum Teil Habseligkeiten und Ersparnisse zurücklassen mußten. Antifranzösische Parolen wurden gerufen; ein Politiker bedauerte, daß es so spät in der verregneten Nacht nicht möglich war, die Bevölkerung Bamakos in größerem Stil gegen die Franzosen zu mobilisieren.

In der Nacht zum gestrigen Donnerstag landete erneut eine französische Militärmaschine mit abgeschobenen Afrikanern in Bamako. Wieder waren drei der einstigen Kirchenbesetzer dabei. Seit der Wiedereinführung der Massenabschiebepolitik nach der französischen Präsidentschaftswahl von 1995 erreichen monatlich mehrere derartige Charterflüge dieser Art die Hauptstadt Malis – und während die ersten in Bamako noch wenig wahrgenommen wurden, wächst jetzt der Zorn. Wird Paris ohnehin von vielen Afrikanern für den Machterhalt ungeliebter Regierungen in den ehemaligen Kolonialgebieten verantwortlich gemacht, so geht es bei Frankreichs Kampf gegen die illegale Migration um eine für viele Westafrikaner wesentliche Einkommensquelle, der nun offenbar der Hahn abgedreht werden soll.

Seit Menschengedenken charakterisiert Migration die Gesellschaften Westafrikas. Denn die Staatswesen der trockenen Savannen und Sahelzonen, Herren über alte Handelsrouten ohne nennenswerte Möglichkeiten zur Produktion eigener Reichtümer, tendieren historisch zur territorialen Ausbreitung, was sie sowohl in Konflikte gegeneinander treibt wie auch zum Eindringen in die eher kleinteiligen Waldgesellschaften der tropischen Küste mit ihren Handelshäfen. Der Trend hat sich mit der Ausbreitung der Geldwirtschaft verstärkt. Die Küstenstädte sind Schauplätze des intensivsten ökonomischen Wettbewerbs und Standorte der besten und oft einzigen Bildungsmöglichkeiten.

Westafrikas größte Städte Abidjan und Lagos, die Metropolen der Elfenbeinküste und Nigerias, verzeichneten zu ihren Boomzeiten zu Beginn der 70er Jahre jährliche Wachstumsraten von zehn bzw. elf Prozent. Lagos zählt heute an die zehn Millionen Einwohner, darunter viele Angehörige von aus anderen Landesteilen Nigerias stammenden Völkern. Das afrikanische Zentrum Abidjans, Treichville, gilt mit seinen Wanderarbeitern aus Mali und Guinea, Burkina Faso und Mauretanien, als Heimat der größten Nationalitätenvielfalt auf engstem Raum in ganz Afrika.

Die Bevölkerungen von Binnenländern wie Mali und Burkina Faso sind ebenso wie die der Nordregionen von Küstenstaaten wie Elfenbeinküste, Ghana oder Nigeria auf die Möglichkeit des Geldverdienens an der Küste angewiesen. Ein Durchschnittsbewohner eines Landes wie Mali kann nicht damit rechnen, vor dem Erreichen des 30. Lebensjahres einen formalen Arbeitsplatz in seinem Heimatland zu ergattern – nach der derzeitigen Lebenserwartung hat er dann schon zwei Drittel seines Lebens hinter sich. Heute gibt es neben sieben bis acht Millionen Maliern in Mali drei bis vier Millionen im Ausland, davon über drei Viertel in anderen afrikanischen Ländern. Ähnlich verhält es sich für Burkina Faso. Die Elfenbeinküste, wichtigstes Zielland dieser beiden Staaten, zählt demgegenüber je nach Definition zwischen 20 und 40 Prozent Ausländer.

Untersuchungen zufolge stammte bereits 1984 ein Drittel der Haushaltseinkommen in Burkina Fasos Sahelzone aus Überweisungen von Migranten. Der OECD zufolge verdienen die Migranten aus dem Tal des Senegal- flusses – er fließt durch den Westen Malis, bildet die Grenze zwischen Senegal und Mauretanien, und sein Tal verzeichnet eine der höchsten Auswanderungsraten Westafrikas – jährlich das Doppelte des Staatshaushaltes von Mali und das Fünffache jenes von Mauretanien. Allein die Filiale der westafrikanischen Bank BIAO in Bamako verzeichnet jährlich umgerechnet 100 Millionen Mark an Überweisungen von Auswanderern.

Zwar schaffen die wenigsten Migranten den weiten Weg nach Europa. Nur etwa 100.000 Malier leben Schätzungen zufolge in Frankreich, davon angeblich die Hälfte illegal. Doch gemessen an ihrer geringen Zahl ist der finanzielle Beitrag der Euro-Migranten überproportional hoch. Ein Straßenfeger in Paris verdient soviel wie ein Minister in Senegal. Von den 100.000 Maliern in Frankreich sind wohl um die zehn Prozent der malischen Bevölkerung direkt abhängig. Stellt man sich vor, Mali hätte nicht 100.000 Emigranten in Frankreich, sondern 100.000 Minister, erkennt man die Bedeutung des Phänomens.

Kein Wunder daher, daß die Auswanderung nach Europa ebensowenig eine individuelle Angelegenheit ist wie die Erlangung eines Ministeramtes. Regierungsposten sind ein Objekt von Intrigen und korrupten Geschäften. Mit Visa und Flugticket nach Paris, was alles zusammen zwei Jahreseinkommen eines westafrikanischen Arbeiters veschlingt, verhält es sich genauso. Der Euro-Migrant ist wandelnde Investition seines Dorfes. Besonders in Senegal, wo die Planung der Dorfentwicklung im Rahmen der Dezentralisierung den traditionellen Autoritäten obliegt, entscheiden die Dorfmächtigen über die Emigration. Geld wird gesammelt, Wartelisten werden angelegt. Ist der Ausgewählte einmal am Ziel, erwartet die Heimatgemeinde eine Rendite in Form regelmäßiger Geldüberweisungen oder Sachwerte.

Die Institutionalisierung der Migration nach Europa ist vor allem unter der Soninke-Ethnie im bereits erwähnten Senegalflußtal verbreitet. Die Soninke, die bis heute Kollektiveigentum an Boden pflegen und dadurch individuelle Bereicherung zur Affäre der Gesamtgemeinschaft machen, stellen die Mehrheit der malischen Immigranten in Paris. In Afrika gibt es Soninke-Ortschaften, deren moderne Infrastruktur – Straßen, Gesundheitszentren, Wasserpumpen, Ziegelhäuser – völlig von den Einkommen der Migranten finanziert worden ist. Das malische Dorf Ballé, so berichtete kürzlich die Pariser Zeitung Libération, nennt neben 5.000 Einwohnern mehrere hundert „Auswärtige“ sein eigen: 200 in der Elfenbeinküste, 60 in Frankreich, 50 im zentralafrikanischen Ölland Gabun, sogar 30 in den USA. Jede Gruppe hat inzwischen im Dorf eine eigene Apotheke errichten lassen, und Malis Regierung hat die Gemeinde die Zustimmung zu einem Straßenbauprojekt abgerungen, das mit den Geldern der Migranten finanziert werden soll.

Da läßt sich leicht ermessen, welchen wirtschaftlichen Verlust die Rücksendung jedes einzelnen Wanderarbeiters nach Afrika bringt. Die Bedeutung Europas nimmt in dem Maße noch zu, in dem die Attraktivität der westafrikanischen Metropolen abnimmt. Je größer Millionenstädte wie Lagos, Abidjan oder Dakar werden, desto härter wird dort der Konkurrenzkampf, desto schwieriger das Überleben. Galten die großen Städte einst als Inbegriff von Prosperität und Fortschritt, ist inzwischen laut UNDP in Mali, Niger, der Elfenbeinküste und Guinea die Lebensqualität in wesentlichen Bereichen höher auf dem Land als in der Stadt. Die höchsten Zuwachsraten in Westafrika verzeichnen derzeit die Kleinstädte, die weder unter der Unsicherheit der Metropolen noch der Abgeschiedenheit der Dörfer zu leiden haben. Die Wachstumsraten von Lagos und Abidjan haben sich hingegen seit den 70er Jahren halbiert. Zudem haben viele afrikanische Länder begonnen, fremde Afrikaner hinauszuwerfen. Letztes Jahr taten dies Libyen und Gabun; in diesen Wochen landen in Senegal und Mali nicht nur Abgeschobene aus Frankreich, sondern auch aus Angola.

Je problematischer afrikanische Wanderziele werden, desto attraktiverer wird der Direktflug nach Europa. Die französischen Versuche, die Wanderung durch Rückkehrhilfen umzukehren, nehmen sich da eher kontraproduktiv an. Je mehr Geld Paris zahlt, um Afrikaner zur Rückkehr nach Afrika zu bewegen, desto lohnender ist es, nach Frankreich zu reisen, um dieses Geld in Anspruch zu nehmen. Bisher sind die Hilfen ohnehin eher lächerlich: Neben Flugticket und einer zusätzlichen baggage allowance von 40 Kilogramm pro Person erhält jeder Erwachsene 1.000 Franc (300 Mark) bar auf die Hand, dazu pro Kind 300 Franc. Das ist nicht gerade ein Anreiz, wie das Beispiel Senegal zeigt: 1985, im ersten Jahr dieser von der EU unterstützten Regelung, machten davon 205 Senegalesen Gebrauch, 1990 waren es gerade mal sechs – über die sechs Jahre hinweg waren es genau 548.

Nun will Frankreich einen neuen Anlauf machen. Am 23. und 24.September plant der französische Entwicklungshilfeminister Jacques Godfrain einen Besuch in Mali. Er möchte dort eine Erhöhung der Rückkehrhilfen und Finanzhilfen für Straßenbau und Goldschürfung verkünden. Aber fraglich ist, wie das in Mali aufgenommen wird. „Entwicklungshilfe“, sagte Godfrain nach der Räumung der Kirche Saint-Bernard, „besteht darin, diesen Leute die Möglichkeit zu geben, nach Hause zu gehen.“ Die „Leute“ selbst sehen das anders.

Da spielen auch emotionale Momente mit, die tiefer gehen als das Kalkül der Rentabilität. In den Straßen Dakars, Bamakos und Abidjans gibt es viele alte Männer, die im Besitz alter französischer Papiere sind, die im Zweiten Weltkrieg für Frankreich kämpften und noch heute eine kleine Soldatenrente aus Paris beziehen. Nun sehen sie in den vom französischen Fernsehen übernommenen Bildern ihrer TV-Nachrichten, wie ihre Kinder im „Mutterland“ behandelt werden. Und sie verstehen nicht, wie ein Land, das noch vor kurzer Zeit das Recht zur Beherrschung afrikanischer Völker beanspruchte und noch heute immensen kulturellen und wirtschaftlichen Einfluß auf sie ausübt, ihnen jetzt den Aufenthalt verwehrt.

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