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■ Die Empörung über Sextouristen und Kinderschänder hat Konjunktur. Genauigkeit bleibt dabei auf der StreckeHöhere Zahlen, höhere Moral?

Im Vorfeld des 1. Weltkongresses gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern in Stockholm verlautete unter Berufung auf die Unicef, daß es weltweit zwei Millionen Kinderprostituierte gebe (so Süddeutsche Zeitung und Tagesspiegel am 22.8.). Fünf Tage später war in der SZ zu lesen, daß jährlich eine Million Kinder unter 18 Jahren neu zur Prostituion gezwungen werden. Wenn ich mich auf meine Rechenkünste noch verlassen kann, dann hat sich binnen weniger Tage die hohe Zahl kommerziell sexuell ausgebeuteter Kinder unter 18 noch einmal vervier- oder verfünffacht. Zu diesen vielen Millionen – acht? zehn? zwölf? – kämen noch mehr, wenn der Kongreß auch noch die im Familien- und Freundeskreis mißbrauchten, aber nicht verkauften Kinder berücksichtigen wollte. Nein, man will sich auf Prostitution, Sextourismus, Kinderhandel und Kinderpornographie beschränken. Die Probleme sind groß genug. Allein während der fünf Kongreßtage werden in Asien eine Million Kinder von zehn bis zwölf Millionen männlichen Kunden mißbraucht. Daran erinnerte bei der Eröffnung einer der Initiatoren, der australische Pfarrer Ron O'Grady, allerdings unter Einschub des Wörtchens „schätzungsweise“. Die sexuelle Ausbeutung von Kindern ist außerdem ein Multimilliardengeschäft geworden, wenn wir uns auf die Erkenntnisse der Unicef-Chefin Carol Bellamy verlassen wollen. Und warum sollen wir nicht? „Auf der Liste weltweit profitabler Geschäfte rangiert Sex mit Kindern auf Platz drei – gleich hinter Drogen und Waffenhandel“, so der Tagesspiegel am 28.8.

Aber beschränken wir uns ruhig einmal auf das Kehren vor der eigenen Tür. Außenminister Kinkel, einer unserer neuesten Kinderschutzexperten und als solcher, aber auch wegen der internationalen Aspekte des Problems, in Stockholm vertreten, gab bekannt, daß allein in Deutschland mit Kinderprostitution und Kinderpornographie 500 Millionen Mark umgesetzt werden. Wie viele Kinder für Pornos mißbraucht werden, da wollte sich der Frankfurter Oberstaatsanwalt Peter Köhler nicht festlegen. Er sprach aber, laut Berliner Zeitung vom 26.8., von „zahllosen“ und verwies darauf, daß derzeit 690 Kinder in Deutschland als vermißt gemeldet seien. Ich kann nicht verhehlen, daß mir das Attribut „zahllos“ im Zusammenhang mit den als vermißt gemeldeten Kindern mißverständlich zu sein scheint. Wollte Oberstaatsanwalt Köhler vielleicht nur andeuten, daß er keine Ahnung hat, sich aber nicht traut, das zuzugeben, ausgerechnet auf dem Weg nach Stockholm? Wenn man übrigens noch daran denkt, daß in Deutschland eine Zahl von x Minderjährigen auf Trebe ist, dann sind 690 Vermißtenanzeigen deprimierend wenig; denn mit Sicherheit ist x größer als 690, obwohl ich mich hier nicht festlegen will, weil das Rechnen mit ein oder zwei Unbekannten immer schon zu meinen schwächsten Seiten gehörte.

Schwingen wir weiter den Besen vor der Tür, ehe wir dann zum Thema Zuchtrute übergehen. Von 400.000 Männern, die jährlich nicht als Urlauber, sondern als Sextouristen ins Ausland reisen, bedienen sich 10.000 nach „Erkenntnissen von Experten“ bei Minderjährigen. Genauer gesagt: „etwa“ 10.000 der „bis zu“ 400.000 Deutschen (Berliner Zeitung vom 21.8.). Daraus scheint zu folgen, daß 10.000 Minderjährige auf deutsch mißbraucht werden (Berliner Zeitung vom 26.8.); nach Schätzungen von „Hilfswerken“ waren es 1995 aber ein paar mehr, nämlich 100.000 (Tagesspiegel vom 22.8.). Die Entscheidung zwischen beiden Zahlen sollte jedem Vernünftigen leicht fallen. Höhere Zahlen sprechen von höherem Engagement, höherer Betroffenheit und überhaupt von höherer Moral. Unser neuer Kinderschutzexperte Kinkel forderte in Stockholm „alle Menschen auf, mitzuhelfen, daß der sexuelle Mißbrauch von Kindern aus der Tabuzone herausgeholt und als unentschuldbares Verbrechen gegbrandmarkt“ werde. Wörtlich sagte er: „Kinderschänder müssen geächtet werden.“

Ächtung ist ein altdeutscher Rechtsvorgang und meint Ausstoßen aus der Gemeinschaft der Menschen. Ein Geächteter ist vogelfrei und konnte früher straflos von jedem verfolgt und ums Leben gebracht werden. Wer Kinder buchstäblich oder seelenmordet (das ist die Konsequenz jedes sexuellen Mißbrauchs), verdient es, aus der Menschheit ausgeschlossen zu werden.

Ich persönlich freue mich über die sich abzeichnende Etablierung des Begriffs „Kinderschänder“. Mit Fremdwörtern wie Päderastie und Pädophilie, mit der Untersuchung von Einzelfällen (Bartsch, Dahmer, West, Dutroux oder dem aktuellen Dresdner Großfall von Heimkindern und Trebegängern, die von schwul-pädophilen Männern mit Geld und guten Worten, Freundlichkeit und Fürsorge ins Verderben geführt wurden) verdienen wir doch bloß kostbare Zeit. Man möge mich bitte nicht als Alt- oder Neonazi klassifizieren, aber wir müssen doch heute zugeben, daß neben der Autobahn der Kinderschänder eine wirkliche Errungenschaft jener sonst zu Recht verurteilten und immer noch nicht befriedigend aufgearbeiteten Zeit darstellt. Natürlich weiß ich so gut wie jeder, daß es falsch ist, gegen Kinderschänder mit der Todesstrafe, der Kastration und der Einweisung ins KZ vorzugehen. Heute setzen wir – siehe Stockholm – auf international vernetzte Verfolgung im Zeichen der Ächtung, auf Verschärfung der Strafgesetze und Ausbau der Gefängnisse, in welche die 10.000 bis 100.000 Kinderschänder (Sextouristen) in Zukunft eingewiesen werden. Dort wird dann Therapie angeboten. Bis es soweit ist, braucht es noch eine Menge Arbeit.

Schuldig machen sich aber nicht nur die Täter, sondern wir alle, die wir ihr Verbrechen in der Mitte der Gesellschaft tolerieren, differenzieren und verharmlosen. Vollinhaltlich stimme ich meinem Vorredner Micha Hilgers (taz vom 27.8.) deshalb zu: „Kern der Sache ist, daß wir eine Gesellschaft heimlicher Kinderschänder und Perverser sind.“ Wer dazu denn doch nicht gehören will, outet so oder so am besten einen „gebräunten Kinderficker“ (Hilgers). Halali! Die Jagdsaison ist eröffnet. Katharina Rutschky

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