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Gewerkschaftskrach ums Programm

■ 537 Änderungsanträge zum neuen Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Aufstand bei Basis und Einzelgewerkschaften

Düsseldorf (taz) –Beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) fliegen die Fetzen. Vielen Gewerkschaftern paßt die Richtung des 34seitigen Grundsatzprogramm- Entwurfs nicht. Der sollte eigentlich beim außerordentlichen DGB-Kongreß Mitte November in Dresden verabschiedet werden. 537 Änderungsänträge liegen bisher vor und zeugen von Frust. Gleich vier Vorstände der Einzelgewerkschaften verlangten eine Vertagung der Verabschiedung des Programms. Den Mitgliedern, sei „nicht ausreichend“ Gelegenheit zur Diskussion eingeräumt worden, lautet die Kritik der Gewerkschaft Holz und Kunststoff. Auch die IG Medien, die Postgewerkschafter und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) schlossen sich der Forderung nach Vertagung an.

Anfang März schien der Frieden im DGB noch gewahrt. Schiedlich-friedlich stimmten damals alle Vorsitzenden dem Programmentwurf im Grundsatz zu. Inzwischen rumort es auch an der Basis. Die Gewerkschaftsblätter drucken massenhaft die Briefe empörter Mitglieder.

Nachdem zunächst die linken Kritiker den den Entwurfs zerpflückt hatten – „kleinmütige Anpassung“ an die herrschenden Verhältnisse (taz v. 19. 8. 96) –, meldet jetzt der konservative Flügel Änderungsbedarf an. Die IG Bergbau will den Ausstieg aus der Atomenergie nicht mehr hinnehmen. Bereits heute den endgültigen Verzicht festzuschreiben sei „nicht zu verantworten“. Ziel müsse es sein, „ein Kernkraftwerk zu entwickeln, dessen Restrisiken sich auf sein Inneres beschränken und bei dessen Betrieb keinerlei unbeherrschbare Endlagerungsprobleme entstehen“.

Die IG Chemie möchte die Aussagen zur ökologischen Steuerreform abschwächen. Es sei zwar richtig, den Energie- und Rohstoffverbrauch über Steuern und Beiträge zu verteuern. Davon ausgenommen werden müsse aber die „Prozeßenergie“, die die Betriebe während des Produktionsprozesses verbrauchen. Das hätte zum Ergebnis, daß eine solche Steuer nur die privaten, nicht aber die industriellen Verbraucher belastet.

Richtig Zoff dürfte es auf dem Kongreß auch um den Sozialstaat geben. Während es im Entwurf heißt, es sei „ein zentraler Bestandteil gewerkschaftlicher Politik“, den Sozialstaat „durch Reformen zu sichern“, fordert die eher linke Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) dazu auf, den Sozialstaat „auszubauen“.

Den heißesten Streit könnte die Passage zur Öffnung der Flächentarifverträge auslösen. Künftig, so will es der Entwurf, müßten „Optionen“ verankert werden, „die Wahl- und Gestaltungsperspektiven für die betriebliche Umsetzung“ in den einzelnen Firmen eröffnen. HBV und IG Medien wollen diese Passage ganz aus dem Programm streichen. In der betrieblichen Praxis ist diese Öffnung jedoch vielerorts längst vollzogen. Eine Verständigung darüber ist innerhalb der Gewerkschaftsbewegung mehr als dringlich. „Wenn uns das nicht gelingt“, fürchtet ein Insider aus der DGB-Zentrale in Düsseldorf, „fliegt uns der Laden auseinander.“ Walter Jakobs

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