: Die Flucht in die wissenschaftliche Abstraktion
Goldhagen rehabilitiert die Perspektive der Holocaust-Opfer, die aus der wissenschaftlichen Debatte fast verschwunden war. Seine deutschen Kritiker wehren sich gerade gegen den kalten, genauen Blick des Autors auf die Deutschen ■ Von Ingrid Strobl
Schon die anfängliche Aufregung über und fast einhellige Ablehnung von Daniel Jonah Goldhagens Buch über die „ganz gewöhnlichen Deutschen“ und den Holocaust legte die Vermutung nahe, daß hier einer gut getroffen hat. Wem die Ehre des deutschen Volkes nicht allzu dringlich am Herzen lag, wurde neugierig – und war doch auch verunsichert, so einhellig war die Ablehnung von links bis rechts, von Historiker bis Journalist, von Funktionalist bis Intentionalist.
Nun gibt es an „Hitlers willige Vollstrecker“ durchaus einiges auszusetzen. Goldhagens Aufarbeitung des Materials belegt zwar überzeugend, daß die Täter aus antisemitischen Motiven handelten. Über ihre Art des Antisemitismus sagt das vom Autor vorgelegte Material aber kaum etwas aus. Hier fixiert sich Goldhagen auf einen fast ausschließlich „dämonischen“ Antisemitismus. Und er beschränkt diesen Antisemitismus auf die „Deutschen“. Zwar begründet der Harvard-Professor Goldhagen halbwegs einsichtig, warum er die Kollaborateure in den besetzten Ländern unberücksichtigt läßt – es bleibt aber unklar, ob er die Österreicher quasi nachträglich wieder „anschließt“ und so zu „Deutschen“ macht.
Goldhagen betrachtet nur deutschen Antisemitismus
Die „Aktion Reinhardt“, die Ermordung von zwei Millionen jüdischen Männern, Frauen und Kindern im „Generalgouvernement“, wurde zu einem entscheidenden Anteil von Österreichern geplant, organisiert und durchgeführt. Österreicher nahmen generell in allen Bereichen, die mit der Ermordung jüdischer Menschen zu tun hatten, eine herausragende Stellung ein. Und die Ausschreitungen der normalen Österreicher gegen ihre jüdischen Nachbarn sofort nach dem deutschen Einmarsch gelten zu Recht als Paradebeispiel eines besonders gemeinen Antisemitismus. Goldhagen erwähnt diese besondere Mitverantwortung der Österreicher allerdings mit keinem Wort und verzichtet auch auf jede Erwähnung des spezifisch österreichischen Antisemitismus, der schließlich Hitler und viele seiner „willigen Vollstrecker“ prägte.
Das sind nicht die einzigen Bedenken, die sich gegen Goldhagens Buch vorbringen ließen. Aber diese Schwächen sind nicht der wahre Grund für die vehemente Ablehnung, die das Buch in Deutschland erfährt. Was Goldhagens Gegner so erregt, ist dreierlei. Erstens: Dieser Amerikaner erdreistet sich, die Deutschen „aus dem Blickwinkel eines Anthropologen zu betrachten, der sich mit der Welt eines Volkes beschäftigt, das eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes verübt hat“ (Goldhagen). Es mangelt ihm also offensichtlich an Respekt vor den Deutschen und ihrer Kulturleistung. Er geht mit ihnen um, als handele es sich um „Wilde“. Das kann anscheinend auch der differenzierteste Deutsche nur schwer ertragen.
Zweitens: Goldhagen behauptet, die Deutschen mußten sich nicht, wie bisher stets angenommen, überwinden, um ihre Mordtaten zu begehen, sondern sie begingen sie freiwillig und gerne. Die Aussagen vieler Überlebender berichten seit 50 Jahren von nichts anderem.
Goldhagens dritte Provokation ist es, dezidiert eine „klinisch saubere Beschreibung des Tötungsvorganges“ abzulehnen, da diese seiner Ansicht nach jedes wirkliche Verstehen behindere. Statt dessen beschreibt er: das Blut, die Schreie, die Grausamkeit. Historiker wie Hans Mommsen und Y. Michal Bodemann werfen ihm deshalb eine voyeuristische, wenn nicht gar pornographische Schreibweise vor. Mommsen geht in seinem jüngsten Aufsatz in der Zeit (vom 30. August 1996) sogar so weit zu unterstellen, dieser „Effekt“ trage „zum Massenabsatz seines Buches vermutlich maßgeblich“ bei. Darf man hier schlichten Neid auf den „Massenabsatz“ vermuten? Es steckt aber noch mehr dahinter: Die Weigerung vieler deutscher Historiker, sich auf das einzulassen, was die deutsche „Judenpolitik“ ganz konkret mit ihren Opfern angestellt hat. Man forscht über Vorgänge und Sachzwänge, ohne sich dabei auch vor Augen zu halten, daß das Funktionieren dieser Vorgänge konkret zum Beispiel bedeutete, daß deutsche Männer jüdische Säuglinge mit dem Kopf so gegen eine Wand schlugen, daß der Kopf im Wortsinne platzte. Und daß sie die Mütter zwangen, dabei zuzusehen. Sich im Rahmen einer Forschungsarbeit solche Szenen zu vergegenwärtigen, gilt als unwissenschaftlich. Als wissenschaftlich gilt dagegen, wie Professor Hans Mommsen in der Zeit, von „den anderen rassischen Gegnern des Regimes“ zu schreiben, von „wilden Judenübergriffen“, vom „Ausschaltungsprozuß der Juden“ und von den „auf Deportation ihrer Juden nach Osten drängenden Gauleiter(n) des ,Altreichs'“.Während Mommsen die Worte „wilde“ und „Altreich“ in distanzierende Anführungszeichen setzt, spricht er ohne sichtbare Distanzierung von rassischen Gegnern, von ihren [der Gauleiter] Juden, von Judenübergriffen statt von Übergriffen gegen Juden und vom Ausschaltungsprozeß der Juden (als sei der Ausschaltungsprozeß das Werk der Juden gewesen) statt vom Prozeß der Ausschaltung von Juden. Natürlich spricht man im Kreise von FachkollegInnen nicht immer mit erhobenen Händen, um die Anführungszeichen zu signalisieren. Man kann hier die NS-Terminologie – als implizites Zitat – verwenden, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, man habe sich die Anschauungen des Nationalsozialismus zu eigen gemacht. Wendet man sich aber an ein größeres Publikum, ohne die Zitate wieder als solche kenntlich zu machen, riskiert man leichtfertig Mißverständnisse.
Das Buch schockiert, weil es Opfer und Täter nennt
Goldhagen leugnet nicht die Notwendigkeit, die Rolle der Bürokratien, die Komplexität der Abläufe, das Funktionieren der diversen Apparate und Institutionen zu erforschen. Er besteht lediglich darauf, bei alledem nicht zu vergessen, was faktisch geschah. Nur wer die praktischen Auswirkungen der „Endlösung“ ausblendet, kann, wie Mommsen in der Zeit, gegen Goldhagen einwenden: „In der differenzierten Betrachtungsweise der jüngeren Holocaust-Forschung erscheint der Antisemitismus als notwendige, aber keineswegs als hinreichende Bedingung für die Implementierung der ,Endlösung'. Die auf Dauerkonkurrenz sich auflösender Institutionen ausgerichetete Struktur des Regimes trieb, zusammen mit einer negativen Selektion politischer Interessenwahrnehmung, einen kumulativen Radikalisierungsprozeß in eine Richtung voran, an deren Ende zwangsläufig die Vernichtung der Juden stand.“ (Warum „zwangsläufig“?)
Das klingt natürlich viel neutraler als Goldhagens Beharren darauf, daß all diese „Prozesse“ von realen Personen betrieben und erlitten wurden, daß nicht „zehntausend“ in dieser Stadt und „500“ in jenem Dorf „getötet wurden“, sondern daß deutsche Männer zehntausend beziehungsweise 500 jüdische Frauen, Männern und Kindern in den Kopf schossen, um sie zu töten. Genau diese Deutlichkeit aber lehnen deutsche Wissenschaftler immer noch weitgehend ab. So, wie sie sich mehrheitlich weigern, die Deutschen, die in den besetzten Ländern die deutsche Besatzungs- und Mordpolitik durchführten, als „Deutsche“ zu bezeichnen. Das sei zu pauschal und unwissenschaftlich, wenn nicht gar politisch/polemisch. Lieber sprechen sie von SS und SD, SIPO und Gestapo, von Wehrmacht, Besatzungsbehörden und Funktionseliten. Was ja alles richtig ist, nur daß es eben auch alles Deutsche waren.
Und so fällt Professor Hans Mommsen nicht aus dem Rahmen, wenn er in der Zeit darüber lamentiert, wie „dünn die Patina der abendländischen Zivilisation“ doch sei. Goldhagen macht klar, daß es hier nicht um das Abendland geht, sondern um Deutschland. So absurd es klingt: Er bricht ein Tabu, indem er laut und deutlich ausspricht, was doch eigentlich jeder wissen müßte: Die Deutschen (und, Anm. I. S., Österreicher) waren es. Und das, was sie den Juden antaten, taten sie aus Antisemitismus. Goldhagen leugnet nicht, daß auch Motive wie Habgier, Karrierestreben, Angst vor Befehlsverweigerung, Gruppendruck usw. eine Rolle gespielt haben mögen. Aber auch all diese anderen Motive – das legt er überzeugend dar – waren unterfüttert von Antisemitismus. Goldhagen belegt anhand zahlreicher Beispiele: Die Deutschen verhielten sich gegenüber keiner anderen Gruppe, die sich in ihrer Gewalt befand, auf vergleichbare Weise. Deutsche haben gegen Entscheidungen des Regimes, die ihnen mißfielen, protestiert, von der Entfernung der Kruzifixe aus bayerischen Schulen bis zur Tötung behinderter Menschen durch das „Euthanasieprogramm“. Deutsche haben sogar gelegentlich die Gesetze mißachtet und Zwangsarbeiter besser behandelt, als es ihnen vorgeschrieben war. Nur gegen die Entrechtung, Aussonderung, Vertreibung und schließlich Ermordung der Juden haben sie (von wenigen Ausnahmen abgesehen) keinen Finger gerührt.
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