: Der Waffenstillstand wackelt jeden Tag mehr
Das Friedensabkommen mit Tschetschenien will in Moskau eigentlich niemand. Statt dessen eiert die Regierung herum und wartet lieber ab. Und das Wort von einer schmachvollen Kapitulation macht die Runde ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Die Lage in Grosny spitzt sich erneut zu. Vergangene Woche ordnete der Kommandierende der russischen Streitkräfte, Wjatscheslaw Tichomirow an, den Truppenabzug vorerst einzustellen. Er beschuldigte die Tschetschenen, russische Kriegsgefangene nicht auf freien Fuß zu setzen. Dergleichen Vorwürfe erheben auch die Tschetschenen. Der wahre Grund, den Rückzug zu stoppen, dürfte woanders liegen. Alexander Lebed, der das Friedensabkommen auf eigene Faust durchgedrückt hatte, kommentierte den Vorfall so: Tichomirow habe sich ein wenig ereifert...
Die öffentliche Rüge blieb jedoch folgenlos. Weder setzte die Armee den Abzug fort, noch scheint der Sonderbeauftragte des Präsidenten in Tschetschenien darauf nennenswerten Einfluß nehmen zu können.
Das ist charakteristisch für die gesamten Manöver rund um den Friedensprozeß. Die verantwortlichen Politiker in Moskau zögern seit Wochen, den Friedensschluß anzuerkennen. Im Gegenteil: Allmählich formiert sich in der politischen Klasse eher eine Haltung, die in dem Abkommen Rußlands territoriale Interessen verraten glaubt. Viktor Tschernomyrdin begrüßte zwar den Waffenstillstand. Als Premier mit Ambitionen auf das Präsidentenamt kann er es sich nicht erlauben, öffentlich die Fortsetzung des Blutvergießens gutzuheißen. Aber die absehbaren Folgen – Tschetscheniens Austritt aus der Russischen Föderation in fünf Jahren – will er nicht schlucken, zumindest möchte er damit nicht in Verbindung gebracht werden. Der Präsident ist wieder mal aus dem Schneider. Die bevorstehende Operation fördert den Eindruck, als hätte Jelzin mit den Vorgängen direkt nichts mehr zu tun. Wochen ließ er verstreichen, bis er mittelbar über den Premier die Verhandlungsergebnisse „schweren Herzens“ billigte. Seine Zustimmung war indes lauwarm und formulierte nicht näher definierte Restbestände einer Unzufriedenheit, die es zu beseitigen gelte.
Rußlands Elite lehnt den Frieden ab. Tschernomyrdin bewertete das Abkommen denn auch als eine „politische Willenserklärung“ ohne „bindenden“ Rechtscharakter. Waren die Verhandlungen nur Schein? Wie sollen sich die Tschetschenen dazu verhalten? Wer politisch mit dem Ziel nicht übereinstimmt, erhält einen Freibrief, selbständig zu handeln?
Lebed nahm im August die Lage vor Ort in Augenschein und kam zu dem Schluß: Der Krieg kann nicht gewonnen werden. Jeder Versuch, eine Wende zu erzwingen, hätte nur weitere Verluste gefordert. Einsicht drängte den General an den Verhandlungstisch, nicht Liebe zu den Tschetschenen, geschweige denn demokratisches Räsonnement.
Die Armee ist zu schwach. Regierung und Tschernomyrdin haben das nach anderthalb Jahren Krieg begreifen müssen. Politiker aus der kommunistischen und chauvinistischen Opposition wollen die Unfähigkeit des Militärs indes nicht eingestehen. So macht die Version von der schmachvollen Kapitulation die Runde. Die „Partei der Macht“ behält sich daher ihre Entscheidung vor, schwankt und wartet auf eine Chance, sich des Problems elegant entledigen zu können. Das Prinzip nennen die Russen avos – aufs Geratewohl. Es stellt keine Erfindung der unmittelbaren Gegenwart dar, sondern ist ein nicht intentionales Regulativ der russischen Geschichte, das gewöhnlich Implosionen nach sich zieht, für die dann wiederum Schuldige gefunden werden müssen. Mongolen, Tataren, Bolschewiken, Juden, Kaukasier, neuerdings Esten. Dahinter verbergen sich Scheu, Hilflosigkeit und mangelnder Wille, Konsequenzen vorauszusehen und Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Jeder in diesem Konflikt Beteiligte weiß, daß ein Frieden ohne eine Klärung der politischen Streitpunkte nicht von Dauer sein kann.
Mit jedem Tag wird der Waffenstillstand wackliger, und an der Heimatfront erhebt sich immer lauteres Revanchegebrüll. Keiner will zurückstehen. Selbst der Bürgermeister Moskaus, Jurij Luschkow, ein Rassist reinsten Wassers, mischt sich ein. Auch er hegt Hoffnungen auf das Präsidentenamt. Er möchte den Schandfrieden von Chassawjurt für null und nichtig erklären. Tschetschenien bleibt russisch, so sein Diktum. Warum dann aber Tschetschenen hinter die Stadtgrenzen Moskaus verbannen, wie er es liebend gern täte? Logik kennt in Moskau bestenfalls der Mathematiker.
Auch die Intelligenz taucht wieder auf der Bühne auf, die seit Ende der Sowjetunion in der Garderobe lauerte. Alexander Zipko, von Haus aus Philosoph, wirft in der Nesawissimaja Gaseta den „Demokraten“ Verzichtspolitk vor. Anfang der 90er Jahre hätte jeder die Gunst des Wählers besessen, der die „Parade der Souveränitäten“ – gemeint sind die Unabhängigkeitsbestrebungen der Sowjetrepubliken – unterstützte. Weder Sacharow, Jelzin noch der jetzige Friedensbringer Lebed sei deshalb originell. Vielmehr „sind sie alle Schüler des Vaters des Brester Friedens, Lenins also“. Auch er verkaufte Rußlands Interessen 1917 in einem Separatfrieden mit Deutschland, um die Revolution zu inszenieren. Defätismus sei der Charakterzug, der die „Weltanschauung der politischen Elite kennzeichnet“, eine „tiefsitzende nationale Krankheit“. Freiheit der Persönlichkeit sei nicht denkbar ohne Schutz der nationalen Würde, der staatlichen Integrität, schreibt er dem Gegner ins Stammbuch. Finden auch die nichtrussischen Ethnien in diesen Überlegungen Platz? Zipko verdeutlicht bestechend offen die Kontinuität des imperialistischen Denkens, das immer russisch blieb, auch wenn es zwischenzeitlich einen sozialistischen Mantel überwarf.
In einem öffentlichen Aufruf der Chauvinisten und Kommunisten „Zweite Windung des Staatsverfalls“ vergleicht Serge Baburin, nationalistischer Dumaabgeordneter, Alexander Lebed mit Altpräsident Michail Gorbatschow. Der erfährt Hochschätzung in Deutschland, weil er der „bessere Deutsche“ ist, der den sowjetischen Vorhof verschenkte. In den Augen der Tschetschenen sei der Sonderbeauftragte indes ein echter dschigit, ein kaukasischer Reiter, also einer der Ihren. Baburin beunruhigt zudem die Wortwahl der russischen Medien, die im Zusammenhang mit dem Rückzug von einem „bedingungslosen Truppenabzug“ sprächen. Ginge dem nicht erst eine Kapitulation voraus, die in dieser Wortwahl bisher nur als „bedingungslose Kapitulation Hitler-Deutschlands“ auftauchte...?
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum niemand mit dem Frieden in Verbindung gebracht werden möchte. Aber auch nicht ein einziger hält eine konstruktive Lösung parat.
Auch die Einladung des Europaparlaments zu einer Anhörung über Tschetschenien weitet sich zu einem Skandal aus. In der Tat beging Straßburg einen Formfehler, indem es den „legitimen“ Vertreter, Präsident Doku Sawgajew, neben Lebed und Kommandeur Aslan Maschadow nicht eingeladen hatte. Allerdings saß Moskaus Steigbügelhalter nicht am Verhandlungstisch. Lebed ignorierte ihn und nannte ihn gar einen der Hauptschuldigen, der den Krieg nicht beenden wolle.
Die Vorwürfe, sich in die internen Angelegenheiten Rußlands einzumischen, sind gegenstandslos. Straßburg dementierte, den Status Tschetscheniens klären und in einer Plenarsitzung behandeln zu wollen. Der russische Vertreter im Europaparlament, Wladimir Lukin, stellt es auf einmal anders dar. Im Vorfeld hatte er nichts gegen eine Befassung in Straßburg einzuwenden. Nota bene, Lukin ist ein Abgeordneter der liberalen Partei „Jabloko“ und fungierte als Lebeds Rechtsbeistand in Chassawjurt. Schließlich wollte sich auch das Oberhaus noch einschalten. Doch soweit kam es nicht, die Senatoren hatten im letzten Moment Manschetten. Nach der Verfassung obliegt es dem Senat, nur internationale Abkommen zu ratifizieren. Hätte man sich mit dem Dokument befaßt, wäre das einer De-facto-Anerkennung der Republik „Itschkeria“ gleichgekommen. Muß Europa womöglich noch die territoriale Integrität Rußlands retten? Es sieht fast danach aus.
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