: Tag und Nacht steht die Tür offen
Die Suchthilfegemeinschaft Synanon feiert 25jähriges Bestehen und zieht nach Lichtenberg um. Das Landwirtschaftsprojekt in Schmerwitz hat die Organisation fast ruiniert ■ Von Plutonia Plarre
Wenige Tage vor der offiziellen Einweihungsfeier gleicht die Baustelle einem Ameisenhaufen. In dem riesigen Gebäudekomplex wird gehämmert, gesägt und gebohrt, daß die Späne nur so fliegen. Im Innenhof treiben Arbeiter mit lauten Hammerschlägen die letzten Pflastersteine in den Boden, Installateure robben über Glasdächer. In den endlos wirkenden Fluren pinseln wild die Maler, benebelt von der Lackfarbe und verfolgt von den Reinigungstrupps. Synanon, die für Rigidität und Härte bekannte größte Suchthilfeorganisation Deutschlands, feiert am Freitag aus doppeltem Anlaß: Das Drogenprojekt wird 25 Jahre alt und zieht aus der Innenstadt an den Rand eines ehemaligen Industriegebietes in Lichtenberg um. Derzeit leben 300 Menschen bei Synanon Berlin-Brandenburg. Die Hälfte wird in dem neuen „Stammhaus“ in der Herzbergstraße wohnen. Die andere Hälfte betreibt auf einem Gut in Schmerwitz südwestlich von Berlin auf 1.300 Hekar Ackerland biologischen Landbau.
Wenn der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) und die Jugendsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) kommenden Freitag den Synanon-Gründern Ingo und Irene Warnke die Hand schüttelt, werden vermutlich nur Jubelreden gehalten. Kritiker werfen Synanon vor, die Mitglieder einer Art Gehirnwäsche zu unterziehen. Doch davon will man bei Synanon nichts wissen. „Wir sind ganz froh, daß uns der Ruf eines harten Programms anhängt, weil wir sonst von Leuten geradezu überrannt würden“, so Geschäftsführer Ralph-Dieter Wilk.
Synanon nimmt Tag und Nacht Süchtige auf, egal ob es Junkies, Alkoholiker oder Tablettenabhängige sind. Von den 1.000 Menschen, die jährlich vorsprechen, bleibt aber nur ein kleiner Teil länger als ein paar Tage oder Wochen. Wer sich für Synanon entschieden hat, unterschreibt drei Grundregeln: keine Drogen, keinen Alkohol, keine Gewalt (siehe Kasten).
Als die beiden ehemaligen Drogenabhängigen Ingo und Irene Warnke 1971 eine Wohngemeinschaft als Drogenprojekt aufzogen, ahnten sie bestimmt nicht, was für Ausmaße das Projekt einmal annehmen würde. Das neue „Stammhaus“ auf dem 17.000 Qudratmeter großen Grundstück am Rande des Industriegebiets in Lichtenberg ist eine Mischung aus Tradition und Moderne. Die Frontlinie zur Straße und die halben Längsseiten bestehen aus einem denkmalgeschützen Backsteinbau. Es wurde 1910 als Motorenwerk für Automobile gebaut und war im Zweiten Weltkrieg eine Munitionsfabrik. Zu DDR-Zeiten war darin ein Warenlager untergebracht.
Heute geht der Altbau nahtlos in einen modernen Neubau mit Glaskonstruktion über. Das ganze bildet ein geschlossenes Hufeisen. Unter dem Dach befinden sich Wohnräume für 431 Süchtige, Küchen, Gemeinschaftsräume wie Turnhalle und Sauna, ein Familienhaus, vor allem für die Mütter und rund 40 Kinder. Auch einen Schwerstpflegebereich mit 20 behindertengerecht ausgestatteten Einbettzimmern für Aids- und Hepatitispatienten gibt es. „Bei Synanon wird geboren und gestorben“, so Geschäftsführer Wilk.
Die Vollkornbäckerei, das Café und die Galerie sind durch eine Stichstraße von außen zugänglich. Es fragt sich allerdings, wer dort einkaufen wird. Mitten im ehemaligen Industriegebiet gelegen, gibt es dort kaum Wohnhäuser. Die meisten Fabriken wurden nach der Wende stillgelegt. Der einzige Nachbar ist die Herzberg-Klinik. Aber Synanon setzt auf Mundpropaganda und die Kundschaft aus der Klinik.
Ohne den großen Zulauf nach der Wende hätte sich Synanon nicht zu dieser Investition entschlossen. „Vor allem junge Alkoholiker kamen zu uns – selbst aus Bitterfeld“, so Geschäftsführer Wilk. Um ein Haar hätte sich die Organisation mit der Expansion ruiniert. Der Verkauf des alten Stammhauses in der Bernburger Straße in Tiergarten an die Daimler-Tochter Debis brachte zwar einen Erlös von 27 Millionen Mark, und das neue Grundstück in der Herzbergstraße kostete „nur“ 6 Millionen. Aber das Landwirtschaftsprojekt in Schmerwitz wurde fast zum Verhängnis. „Viele denken, Synanon ist reich. Aber wir haben nie schwarze Zahlen geschrieben“, sagt Geschäftsführer Wilk. Weil Brandenburg sich nicht an seine Zusagen hielt – der zugesagte zinslose Kredit von 6 Millionen Mark fiel einfach flach –, habe sich Synanon mit 10 Millionen Mark bis über beide Ohren verschuldet. „Zum Jahreswechsel 95/96 stand der Fortbestand wirklich auf der Kippe“, so Wilk.
Das Projekt finanziert sich zu 30 Prozent aus den Überschüssen der eigenen Betriebe, zu 40 Prozent aus Bußgeldern und Spenden und zu 30 Prozent durch staatliche Mittel, die Hälfte davon ist die Sozialhilfe. Bei Synanon ist es allerdings Bedingung, das kein Mitglied länger als 18 Monate Sozialhilfe kassieren darf. Danach muß man sich in einem sozialversicherungspflichtigen ABM-ähnlich geförderten Beschäftigungsverhältnis qualifizieren. Mit den Einkünften werden die Schulden aus der Drogenzeit reguliert und 3.000 Mark für die Starthilfe nach dem Verlassen des Projektes angespart. In Berlin habe Synanon bislang immer ohne Probleme solche Qualifizierungsmittel bekommen, in Brandenburg hingegen nicht, so Wilk. Das habe den Schuldenberg weiter erhöht.
Das Projekt rettete sich laut Wilk, indem es das Erbbaurecht für das neue Zentrum in der Herzbergstraße verkaufte und Mieter im eigenen Haus wurde. „Nur so haben wir jetzt wieder Luft zum Atmen“, zieht Geschäftsführer Wilk Bilanz.
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