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■ Egon Bahr über die deutsch-deutschen Beziehungen und über SED-Politbüromitglieder, die vor Gericht stehen"Wir haben den Schwindel mitgemacht"

taz: Herr Bahr, als Anfang der 70er Jahre der Grundlagenvertrag unterzeichnet wurde, war man sich damals eigentlich darüber bewußt, daß man damit auch eine Grenze anerkennt? Eine Grenze, die nur dann einen Sinn machen konnte, wenn Menschen mit Waffengewalt daran gehindert würden, sie zu überschreiten?

Egon Bahr: Das ist ein umfangreicher Komplex. Daß es da eine Grenze zwischen Ost und West gab, war ja spätestens bekannt seit dem Bau der Mauer in Berlin. Und daß die Absperrung zwischen den drei Westsektoren und dem Ostsektor von Berlin eine war, bei der die Deutschen wenig zu tun hatten als Befehle auszuführen, haben wir damals als Senat von Berlin schmerzlich und bitter erfahren.

Also im Oktober 1961 wurde die Realität sichtbar, als nämlich die alten Kriegshelden Marschall Konew und General Clay, direkt nach Washington und Moskau verbunden, die Panzer in der Friedrichstraße gegeneinander auffahren ließen – ganz sicher, ohne ihre Deutschen zu fragen. Jedenfalls sind wir nicht danach gefragt worden, ob wir damit einverstanden sind. Es war die Realität, die insofern noch schlimmer oder noch bitterer wurde, als wir in Westberlin dann auf Weisung der Alliierten die Polizei einsetzen mußten zum Schutze der Mauer, weil Studenten bei uns – sehr menschlich, sehr verständlich – gesagt haben: Wir werden das Ding schneller in die Luft jagen, als die es drüben wieder hochbauen können – was die Algerier können mit Plastiksprengstoff, das können wir auch.

Es war völlig klar: Da stand die Frage von Krieg oder Frieden. Und das war eine Frage, die nicht zur Disposition der Deutschen stand, sondern die von den Siegern oder von den beginnenden Freunden – wie auch immer – entschieden wurde. Und dieses monströse „Bauwerk Mauer“ mit der eigenen Polizei zu schützen, das hat natürlich psychologisch, politisch, geistig, moralisch, ethisch viele, viele Fragen aufgeworfen.

Jedenfalls sollte eine Provokation vermieden werden.

Na, die Sache sollte unter Kontrolle bleiben. Im Grunde kann man sagen, daß es ein Jahr später, im August 1962, noch deutlicher wurde. Da hat einer versucht, über die Mauer zu steigen und wurde angeschossen.

Von westlicher oder von östlicher Seite?

Von östlicher Seite. Er wurde angeschossen, fiel zurück auf die östliche Seite und starb – 50 Minuten schreiend. Er hieß Peter Fechter. Auf westlicher Seite waren die Leute aufgeregt und haben dann, glaube ich, einen amerikanischen Leutnant, der vorbeikam, aufgefordert, als Träger der obersten Gewalt dem Mann doch zu helfen und ihn rüberzuholen. Daraufhin hat er erklärt, das liege nicht in seiner Kompetenz.

Da gab es zum ersten Male antiamerikanische Demonstrationen in Westberlin – weil die Menschen realisierten, daß die Garantien der Amerikaner nur für die drei Westsektoren gelten und den Ostsektor nicht mehr einschließen. Anders gesagt, daß die Kompetenzen der drei Westmächte an den Westsektoren endeten. Oder noch anders gesagt: Da war eine Grenze! Eine richtige Grenze!

Das war der Hintergrund der Erfahrung, aus der wir dann zu den Verhandlungen mit der DDR über einen Grundlagenvertrag zehn Jahre später gekommen sind. Es konnte überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß die Grenze zwischen Ost und West mitten durch Deutschland, mitten durch eine Stadt geht und auf der anderen Seite das andere Lager ist, mit dem man sich im Krieg befand. Das war ein kalter Krieg, aber es war ein Krieg.

Es gibt – rückblickend betrachtet – eine Art von Schizophrenie. Im kalten Krieg haben wir immer gesagt, daß die DDR ein Satellit ist, genauso wie Polen und die Tschechoslowakei, daß die gar nicht selbständig handeln können. Jetzt sagen wir, daß die DDR ein souveräner Staat war. Das ist ein Widerspruch.

Auch eine Lebenslüge, wie es die Verteidigung im Krenz-Prozeß als These formulierte?

Mich interessiert nicht die Formulierung der Verteidigung im Krenz-Prozeß. Ich sage aus meiner Erinnerung und aus meiner Kenntnis das, was ich für richtig halte und für realitätsnah. Das Problem ist nämlich in Wirklichkeit schwierig und so, daß es weder Herrn Krenz noch der Verteidigung wahrscheinlich gefallen wird. Die Frage steht: War die DDR wirklich ein souveräner Staat? Und da kann ich nur sagen: Entgegen dem, was sie von sich behauptet hat, war sie es nicht. Auch die Bundesrepublik Deutschland war nicht voll souverän – bei allen Unterschieden, die ja nicht zu bezweifeln sind. Die vier Mächte haben sich sowohl völkerrechtlich den direkten Zugriff auf Deutschland und Berlin vorbehalten als auch sicherheitspolitisch.

Ein Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR konnte gar nicht abgeschlossen werden, ohne die Souveränität der DDR anzuerkennen. Das heißt, wir haben, wenn man so will, den Schwindel mitgemacht. Wir wußten aber, daß es einer war. Aber wir haben ihn trotzdem mitgemacht. Hätten wir die DDR für souverän gehalten, dann hätten wir am Beginn jeder Verhandlung sagen müssen: Wir verhandeln nur unter der Voraussetzung, daß dieser sogenannte Schießbefehl abgeschafft wird.

Das haben Sie aber nicht gemacht.

Na, niemand hat das gemacht; nicht nur bei dem Grundlagenvertrag oder dem Transitabkommen oder dem Verkehrsvertrag, sondern es ist ja auch nichts dergleichen geschehen, als wir 1975 nach Helsinki gingen.

Demzufolge ging es nicht um die Abschaffung des Grenzregimes, sondern um gewisse Erleichterungen.

Wenn Sie so wollen, ist die ganze Politik, die nach Helsinki geführt hat, eine Politik gewesen, die die Realitäten anerkannt hat und von den Realitäten ausging.

Also ein weiterer Schwindel.

Nein, die Realität war, daß die Sowjetunion der Letztverantwortliche für den Zustand an der Grenze war. Das war die Realität. Auch der amerikanische Präsident hat gesagt: Ich muß den Status quo anerkennen, wenn ich ihn verändern will. Also war die Politik darauf angelegt, Zustände zu schaffen, in denen nicht mehr geschossen wird. Ich habe mir schrecklichen Ärger eingehandelt – irgendwann in den 60er oder frühen 70er Jahren –, als ich gesagt habe, wenn die den Schießbefehl förmlich aufheben, dann sind am nächsten Morgen die Leitern in Ostberlin ausverkauft. Wer will das schon: einen Staat ohne Bürger oder jedenfalls mit einem hohen Verlust an Bürgern?

Nein, wir haben angenommen und gehofft, eine Situation zu erreichen – übrigens auch dadurch, daß die DDR sich zivilisierter benehmen muß, wenn sie in den Kreis der anerkannten Staaten aufgenommen wird, durch menschliche Erleichterungen, durch mehr Reisemöglichkeiten –, in der an der Grenze nicht mehr geschossen wird.

Und hatte das die DDR alleine zu entscheiden? Das ist doch die eigentliche Frage.

Ich glaube, daß darüber gar kein Zweifel bestehen kann, auch wenn man die Erinnerungen von Kwizinski liest, auch die von Chruschtschow: Im Ausgangspunkt war selbstverständlich die Sowjetunion verantwortlich dafür, daß der Laden mit der Mauer zugemacht wurde. Die DDR ist nur mit der Durchführung bestimmter Aufgaben beauftragt worden und sonst nichts.

Wenn wir die DDR für souverän gehalten hätten, dann hätten wir nicht nur die Beseitigung des Grenzregimes an die Spitze unserer Forderungen stellen müssen, sondern wir hätten zum Beispiel auch sagen müssen, als der Honecker eingeladen wurde durch Bundeskanzler Kohl, daß an die Spitze jeder Unterhaltung die Forderung zu stellen ist: Voraussetzung des Besuches ist eine Änderung dieser Lage an der Grenze und an der Mauer – der Schießbefehl muß weg!

Demzufolge ging auch Kohl davon aus, daß die DDR nicht souverän war?

Aber Entschuldigung, Kohl ist doch nicht dumm. Es hat keinen Unterschied gegeben zwischen dem amerikanischen Präsidenten, den deutschen Bundeskanzlern, ob Brandt oder Schmidt oder Kohl, keiner von denen hat die DDR wirklich souverän gesehen. Wenn wir geglaubt hätten, sie sei wirklich souverän und die Forderung der Abschaffung des Schießbefehls nicht erhoben hätten, dann hätten wir uns ja mitschuldig gemacht. Man könnte sagen: Die einen haben billigend die Realität in Kauf genommen, die anderen mißbilligend.

Egon Krenz und andere verteidigen sich heute damit, daß die DDR gar nicht souverän war. Schlechtes Gewissen oder Verteidigungsstrategie?

Eine sehr späte Anerkennung der Realität.

Krenz und andere stehen in Berlin vor Gericht, weil sie für das Grenzregime verantwortlich gemacht werden beziehungsweise, nach Ansicht der Staatsanwaltschaft, es unterlassen haben, dieses Regime zu humanisieren. Macht es Sinn, daß sie in einem Land vor Gericht stehen, das die Grenze damals anerkannt hat?

Ich glaube, hier ist Objektivität möglich.

Die Frage bleibt ja unabhängig davon, wie man – nach einer Reihe von Jahren, in denen das Regime so eingelaufen war, daß weder sie noch wir die Sache grundsätzlich in Frage gestellt haben – die „Lage“ gehandhabt hat. Es gibt keinen Zweifel daran, daß es in der DDR wegen der Schüsse an der Mauer ein schlechtes Gewissen gab – und zwar von oben bis unten. Die Verrenkungen in der Verteidigung dieses Zustandes sind ja gar nicht anders zu erklären als durch schlechtes Gewissen. Die Frage ist nur, ob die Leute des Politbüros zu feige gewesen sind, da eine Änderung herbeizuführen. Ob sie durften oder nicht durften, muß im Grunde entschieden werden zwischen den sowjetischen Letztverantwortlichen und – ich sage das noch mal – ihren Satelliten.

Das Gericht wird feststellen oder versuchen müssen unter juristischen Gesichtspunkten die Frage zu beantworten, ob die DDR souverän war. Meiner Meinung nach war sie es nicht.

Gibt es also eine strafrechtlich vorzuwerfende Schuld?

Das weiß ich nicht, ich bin kein Jurist.

Der Grundsatz, daß nicht bestraft werden kann, was nicht schon in der DDR als Recht gegolten hat, ist ein Punkt, der selbstverständlich auch in dem Krenz-Verfahren eine wichtige Rolle spielt. Die Frage ist, ob das, was dort zur Beurteilung steht, völkerrechtswidrig war, und es ist gar keine Frage, daß Völkerrecht über Landesrecht geht, auch nach DDR- Auffassung. Wenn das der Fall ist, müßte man auch die ehemalige Sowjetunion haftbar machen.

Und mit auf die Anklagebank setzen?

Ja, selbstverständlich. Nur geht das nicht. Es ist alles insofern ein bißchen verrückt, weil das objektive Gewicht von Verantwortung mehr bei Herrn Chruschtschow als bei Herrn Breschnew lag, mehr bei Herrn Breschnew als bei Herrn Gorbatschow, aber selbstverständlich hat auch Gorbatschow keine Anstrengungen oder Initiativen ergriffen, um zu sagen: Ich möchte das ändern.

Hätten die Angeklagten etwas ändern und mit Gorbatschows Einverständnis rechnen können?

Das weiß ich nicht. Jedenfalls haben sie es nicht versucht. Sie glaubten vielleicht, es nicht versuchen zu können. Unter dem Strich: Sie haben es nicht versucht. Und es hat niemanden gegeben von uns, der sie dazu gedrängt hat. Alle Beteiligten in Ost und West waren daran interessiert, daß die Stabilität erhalten blieb. Interview: Dietmar Jochum

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