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Haßliebe Hauptstadt

Ein Chronist, der Anteil nahm: Auf den Spuren des Schriftstellers Joseph Roth, der als Journalist in den zwanziger Jahren die dunklen, aber auch die heiteren Seiten Berlins entdeckte  ■ Von Moritz Erdmann

Das Berlin der zwanziger Jahre. Großstadthektik, rascher gesellschaftlicher Wandel, soziale Gegensätze, ein Moloch. Mittendrin ein junger Journalist, der gerade aus Wien in die Reichshauptstadt gekommen ist und hier seine Brötchen verdienen will. Mittendrin ein angehender Schriftsteller, dessen Meisterwerke „Radetzkymarsch“ oder „Hiob“ später vor allem für Seelenlandschaften gerühmt werden. Auf Berlin-Eroberung macht sich Joseph Roth.

Daß der nach eigenem Bekunden gänzlich unpolitische Journalisten-Schriftsteller ein zeitkritischer Beobachter der Stadtlandschaft, seiner Bewohner und der Entwicklung der Weimarer Republik war, beweist das von Michael Bienert herausgegebene Taschenbuch „Joseph Roth in Berlin“. Das Lesebuch für Spaziergänger versammelt eine Auswahl von Berlin- Reportagen und Feuilletons, die Roth ab 1920 für verschiedene Zeitungen verfaßte. Allein in der Neuen Berliner Zeitung erschienen bis 1926 über 150 Artikel von Joseph Roth. Weitere Abnehmer fand er im sozialdemokratischen Vorwärts und im bürgerlich-liberalen Berliner Börsen-Courier, neben der Frankfurter Zeitung eine der renommiertesten Zeitungen während der Weimarer Republik. Es lag nahe, dies alles einmal zu sichten und zu kommentieren, wie es der Stadtführer und Autor Michael Bienert jetzt getan hat.

Dem „Literatour“-Team Bienert/Roth folgt man am besten gleich an Ort und Stelle. Zum Beispiel in die Spandauer Vorstadt. Hier traf der galizische Jude Joseph Roth in den frühen Zwanzigern auf eine vitale, schillernde Ghettowelt mit Ostjuden, die in der Hirtenstraße, Grenadierstraße (heute Almstadtstraße), Dragonerstraße (Max-Beer-Straße), Münzstraße und Schindelgasse eine Zuflucht fanden. Die Grenadierstraße war damals erfüllt von Begegnungen – heute findet sich im Hinterhof des Hauses Amstadtstraße 16 ein Denkzeichen: ein Rasenbeet in der Gestalt eines Davidsterns ...

Straßen wurden umbenannt. Wenig geändert hat sich am Elend der vom Schicksal Benachteiligten, deren Milieu Roth mit dickem Pinsel skizzierte, und die er „Abseits- Menschen“ nannte, die Straßenfeger und „Kloppbrüder“ in den Tippelkneipen. So sind Roths 50 Jahre alten Spaziergänge nicht aus einer gänzlich anderen Welt, auch wenn vieles nicht mehr an seinem Platz steht. Roths Berlin-Erkundungen führten über die Asylstuben und das verschwundene Polizeipräsidium auf dem Alexanderplatz, das Obdachlosenasyl im Prenzlauer Berg bis zur Anstalt für Nervenkranke in Charlottenburg.

Doch lieferte der Flaneur auch Stoff zum Schmunzeln. Schließlich war die Neue Berliner Zeitung eine Art linkes Boulevardblatt. Zum Beispiel „den grotesken Anblick eines nächtlichen Heißluftzimmers, in dem 16 splitternackte Obdachlose den Kohlenruß einer Eisenbahnfahrt auszudünsten bestrebt sind“. Es handelt sich um das alte Dampfbad im Admiralspalast am Bahnhof Friedrichstraße. Im „Café des Westens“ am Ku'damm legte der schreibende Spaziergänger eine Pause für den „Mann im Friseurladen“ und Richard, den Zeitungskellner, ein.

1925 verließ Roth die Hauptstadt Richtung Paris. Dort ließ es sich gut flanieren, aber auch dort ließ ihn Berlin nicht los. Nicht erst nach der Bücherverbrennung 1933 wird deutlich, daß Roth diese Stadt und das, wofür sie stand, nie geliebt hat: „Seit der Zeit, als das ,Zweite Reich‘ die Vorherrschaft der physischen, materialistischen und militärischen Kräfte über das geistige Leben anordnete, als der Typ des ,Korporals‘ verkündet und von der Welt als der Prototyp des Deutschen anerkannt wurde, fühlten sich die deutschen Schriftsteller moralisch vertrieben und verbannt.“

Vertrieben erscheinen auch Mensch und Natur im Berliner Verkehr. Der Knotenpunkt Gleisdreieck – ein „ewiger Gottesdienst der Maschinen“, eine „eiserne Landschaft“, ein „Tempel der Technik unter freiem Himmel“. Roths Tonfall wird immer subjektivistischer, melancholisch-skeptisch, die Melancholie derer von Trottas im „Radetzkymarsch“ und von „Hiob“ Mendel Singer. Im UFA-Palast sah er Harold LLoyd: „Ich dachte an den Tod, an das Grab und an das Jenseits. Und während jener seine glänzend komische Idee ausführte, beschloß ich mein Leben Gott zu weihen und Einsiedler zu werden.“

Bienerts Textsammlung regt dazu an, dem verhinderten Einsiedler Roth zu folgen, die Winkel der zusammengerückten Großstadt kennenzulernen und etwas genauer hinzuschauen. Das Berlin der zwanziger Jahre und das nach der Wiedervereinigung: Wieder entwickelt sich etwas in einem atemberaubenden Tempo, wieder prallen soziale Gegensätze aufeinander, immer noch werden hier Menschen nach einem komischen Film traurig nach Hause gehen. So dokumentiert Michael Bienert mit den Texten, historischen Abbidungen und einem Ortsregister nicht nur Alt-, sondern auch ein Stück zeitloses Berlin. Für Joseph Roth war die Stadt eine Schule der Wahrnehmung. Sie hat ihn als Journalisten durch die Zwanziger gebracht, bevor er sich ganz dem Innenleben seiner unsterblichen Romanfiguren im Spiegel untergehender Reiche zuwenden konnte. Irgendwie fand Joseph Roth auch noch versöhnliche Worte für Berlin: „Es ist eine junge, unglückliche, aber wahrscheinlich zukünftige Stadt.“ Warten wir's ab.

„Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger“. Hrg.: Michael Bienert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996, 18,80 DM

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