■ Mögliche Orte: Für eine Topographie des Errors
Zunächst die „magischen Orte“, die man nicht – wie Wim Wenders – flanierend beschwören, sondern nur – wie etwa H. D. Heilmann – analytisch rekonstruieren kann: zum Beispiel den ULAP (Universum Landesausstellungspark) in Moabit zwischen Lehrter Bahnhof, Invalidenstraße und Alt- Moabit.
1879 fand dort die erste Berliner Gewerbeausstellung statt, auf der eine elektrische Eisenbahn vorgestellt wurde: „der Einstieg Berlins zur Elektropolis“ (Historische Kommission). 1916 nahm eine Munitionsfabrik auf dem Gelände ihre Arbeit auf. Vom Januar bis zum März 1919 wurden die ermordeten Spartakisten aus dem Zellengefängnis Lehrter Straße, den Moabiter Kasernen und dem Kriminalgericht auf das ULAP-Gelände geschafft und dort verscharrt.
Im April 1927 stößt man bei Ausschachtarbeiten anläßlich der Elektrifizierung der Stadtbahn erst auf sieben, dann noch einmal auf 119 chlorkalkbedeckte Leichen. Ab 1933 wird das ULAP-Restaurant „Messepalast“ Treffpunkt und Folterraum der Sturmabteilungen I, II und VI. Im April 1945 hält die „Soko 20. Juli“ noch etwa 100 Verdächtige gefangen. Am 23. sollen sie entlassen werden. Man transportiert sie statt dessen auf Lastwagen zum ULAP- Gelände, wo sie erschossen werden.
Einer, der Kommunist Kosney, überlebt, in den Taschen eines anderen, Albrecht Haushofer, findet man das Manuskript der später so genannten Moabiter Sonette – im Gefängnis Lehrter Straße verfaßt. Eine Woche nach der Ermordung der „20. Juli“-Gefangenen werden die beiden flüchtigen Nazi- bonzen Martin Bormann und der SS-Arzt Stumpfegger auf dem ULAP-Gelände tot aufgefunden und dort von Sowjetsoldaten verscharrt. Bormanns Leiche wird erst 1973 identifiziert.
In der Zwischenzeit hatte die Stadt auf dem Trümmergelände ihre neue Leichenhalle errichtet, so daß dann dort auch die ersten Opfer der Studentenbewegung hinkamen: Benno Ohnesorg und Georg von Rauch. Bis heute – so geht das Gerücht – passiert in diesem nationalistisch-antikommunistischen Bermuda-Dreieck bei den dort angesiedelten Behörden und Polizeikräften nur Schreckliches und Übles: That's magic!
Nun zu den „möglichen Orten“: zum Beispiel das zweite Messegelände mit Funkturm und ICC-Koloß, wo gerade in Hauptstadteuphorie etliche neue Hallen errichtet werden. Aus meiner (geringen) Kenntnis der Messeleiter und -mitarbeiter weiß ich, daß dort sehr wohl noch etwas „möglich“ ist. Zum Beispiel gelang es uns im Januar 1990 auf die Schnelle für drei LPGen einen Stand auf der „Grünen Woche“ genehmigt und eingerichtet zu bekommen (erst im Jahr darauf vermeldete die Presse: Nun seien erstmalig auch ostdeutsche Landwirtschaftsbetriebe wieder beteiligt).
„Möglich“ wäre aber noch viel mehr – und bald vielleicht sogar auch „notwendig“: zum Beispiel die Beteiligung von Landwirtschaftsbetrieben aus Polen und Weißrußland, das spezielle Beziehungen zum Brandenburger Landwirtschaftsministerium unterhält.
Aber auch ein wöchentlich dort stattfindender „Polenmarkt“ wäre denk- und wünschbar: Das würde dann die KFZ- Ströme nach Küstrin, Slubice, Stettin et cetera et cetera in die entgegengesetzte Richtung leiten. Michael Wewerka, dem fast alle Berliner Flohmärkte gehören, versuchte zwei Jahre lang einen solchen „Polenmarkt“ einzurichten, aber er scheiterte damit an nahezu allen Behörden: Man wollte dort nur mit High-Tech-versprechenden Westinvestoren und nicht mit handwerklich geschickten Ostmafiosi verhandeln.
Parallel zu den werbenden Verkaufsmessen wären vielleicht auch noch analytisch aufbereitete Branchenüberblicke „möglich“ – zum Beispiel in Zusammenarbeit mit dem Museum für Verkehr und Technik, das dazu seinen arg abgeschmolzenen Personalbestand periodisch und projektbezogen wieder auffüllen könnte. Ich denke dabei an die Erdöl- und Erdgasbranche etwa, die seit dem Zerfall des Ostblocks, dem Golfkrieg und dem Zusammenbruch des OPEC-Kartells in interessante Bewegung geraten ist, die parallel zur Deregulierung und Konzentration der Elektrizitätsversorger zu einer Neustrukturierung der gesamten Energiewirtschaft führen könnte. Darüber würde bestimmt mancher in der Stadt sich gerne einen genaueren Überblick verschaffen.
Der kategorische Konjunktiv ist für das Messegelände noch lange nicht ausgereizt. Es kommt darauf an, viele Ankopplungsmöglichkeiten zu schaffen – was jetzt noch eng und unterwürfig „Sponsoring“ genannt wird. Auch selbstorganisierte Land- und Städte- schauen wären möglich – etwa von der Ukraine und Odessa, mit ihren Industrien, Kolchosen, Produkten etc., woran sich die hiesige Ukraine-Forschung ebenso wie die westlichen Joint- venture-Partner und die jüdisch-ukrainischen Berlin-Exilanten beteiligen könnten. Es wäre vieles dort möglich, ich weiß jedoch nicht, was für Leichen nun im Keller dieses Messegeländes noch liegen. Laut Alexander Kluge machen sie aus einem „möglichen“ wieder einen „magischen“ Ort – insofern die Menschen, die dort leben und arbeiten, sich nur einbilden, sie tun, was ihnen möglich ist, in Wirklichkeit werden sie jedoch eher durch die Geschichte des Ortes selbst zu diesem oder jenem gezwungen.
Neben dem stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse existiert also anscheinend noch ein topographischer (Aus-)Druck. Dieser kann sich unter Umständen derart lähmend auswirken, daß bald überhaupt kein Ort mehr möglich ist – so weit man in den nationalen Grenzen schaut. Bliebe also nurmehr der Ausweg – selbst zum Polen zu werden (die Atopie): Nietzsche hat das bereits vorexerziert! Helmut Höge
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