■ Bundesverfassungsgericht segnet Beschleunigungsgesetz ab: Grundgesetz außer Verfassung
Es ist kein überraschender Spruch des Bundesverfassungsgerichts, aber einer mit Langzeitwirkung. Denn daß die Karlsruher Richter im Jahr 1996 jene Verkehrsprojekte Deutsche Einheit per Federstrich zurück an den Start katapultieren würden, die das Bonner Parlament im Jahr 1993 abgenickt hat, konnte im Ernst niemand erwarten. Höchstrichterliche Sachzwanglogik hat verhindert, daß Sause-Krauses politisches Vermächtnis, nach mäßiger Beschleunigungsleistung gerade in Schwung gekommen, am Fundament des Grundgesetzes zerschellt. Mit der Planung der ICE Trasse Hannover–Berlin von vorn zu beginnen, das wollte und konnte sich niemand vorstellen. Soviel zur nun zweifelsfrei erwiesenen Realitätstauglichkeit höchster deutscher Richter.
Die Rechnung wird später präsentiert. Denn der Beschluß und seine Begründung sind politisch obzön. In Kurzfassung lautet er: Gewaltenteilung, Föderalismus, Demokratie, Bürgerbeteiligung – alles eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Im Ernstfall gerät das Grundgesetz schnell außer Verfassung. Deren Gralshüter beschließen, daß Grundlagen der Verfassung zur Disposition stehen, sofern das Gemeinwohl ihnen entgegensteht. Das Gemeinwohl vertritt der Bundestagsabgeordnete aus dem Südschwarzwald, der in Bonn entscheidet, wo in Vorpommern die Ost-West- Autobahn verläuft. So lieben wir unsere Demokratie.
Die Bundesverfassungsrichter betonen den Ausnahmecharakter eines solchen Planungszentralismus. Der Eingriff des Bonner Gesetzgebers in die verfassungsmäßigen Rechte von Ländern, Kommunen und Bürgern soll nicht zur Regel werden. Welche Kriterien entscheiden über Ausnahme und Regel? Dazu gibt der Beschluß Hinweise. Auf der Absichtsebene: „Herstellung gleicher Lebensverhältnisse“ in Deutschland (wer wollte dagegen sein?). Auf der Realisierungsebene: Statt acht Jahre nach der deutschen Einheit ist der ICE-Abschnitt Stendal schon nach sieben (!) Jahren fertig. Ein Jahr Zeitgewinn, der alles sagt über die Wertschätzung des Grundgesetzes in dieser Zeit. Ein Aufschrei der Empörung ist nicht zu erwarten. Im Gegenteil – der gestern veröffentlichte Beschluß setzt Maßstäbe. Jetzt darf gewettet werden: Wann kommt das erste Maßnahmengesetz zur „Rettung des Standorts Deutschland“? Gerd Rosenkranz
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