: Kaputte Bücher, zu alte Lehrer
In Berlin demonstrierten 12.000 SchülerInnen gegen die Haushaltskürzungen des schwarz-roten Senats. Polizei blockierte Lautsprecherwagen ■ Von Jens Rübsam
Lieselotte Kulbe steht vor ihrem Sauerkrautstand und hat die Fäuste fest in die Hüften gegraben. „Es ist vollkommen richtig, daß die Schüler auf die Straße gehen.“ Früher sei das freilich anders gewesen. Da gab es auch Zwangsmaßnahmen: Schläge mit dem Rohrstock und Lehrer, die nach Lust und Laune Schüler an den Ohren gezogen haben – aber keiner hat aufgemuckt. „Wir waren einfach zu brav.“ Heute würde es Lieselotte Kulbe nicht mehr sein. Schon der Rente wegen. „Was da immerzu gekürzt wird!“
Bewundernd schaut die 61jährige von ihrem Marktstand am Rathaus Schöneberg hinüber zur Belziger Straße. Dort haben sich inzwischen fast 12.000 Berliner SchülerInnen versammelt, um gegen die vom Senat verfügten Sparmaßnahmen im Bildungsbereich zu protestieren. „Wenn das mal die Renter machen würden...“
Ach Gott, was würde sie Schulsenatorin Ingrid Stahmer fragen? Franziska Wieczorek von der Camille-Claudel-Oberschule (Prenzlauer Berg) beißt noch mal in den Apfel und sagt dann: „Wieviel soll eigentlich noch an den Schulen gespart werden.“ Schon jetzt fehlen Lehrer, muß mit zerschlissenen Büchern gearbeitet werden.
Sara Well vom Steglitzer Otto- Lilienthal-Gymnasium formuliert ihre Frage so: „Warum wird soviel Geld für sinnlose Projekte wie zum Beispiel den Tiergartentunnel rausgeschmissen, aber nichts für die Bildung ausgegeben?“ An ihrer Schule sitzen teilweise 35 Jugendliche in einem Klassenraum, gibt es keine Lehrer mehr für Vertretungen, und die Lehrer, die es gibt, sind völlig veraltet.
Elif Hayirli vom Kreuzberger Robert-Koch-Gymnasium will es so sagen: „Wir haben nur noch Schrottbücher, es kann nicht mehr ausreichend kopiert werden.“ Ihre Frage an die Schulsenatorin: „Wo soll das noch hinführen?“
Um Viertel vor zwölf setzt sich der Demonstrationszug am Rathaus Schöneberg in Bewegung. SchülerInnen aus fast allen Stadtbezirken haben sich einen Tag freigenommen – das Anliegen ist für viele wichtig genug. Eric-Paul Mock, Lydia Horn und Konstantin Hirsch sind extra vom Prenzlberg im Osten der Stadt nach Schöneberg in den Westen gekommen. Auf ihrem Transparent fordern sie die Rücknahme der Sparmaßnahmen, mehr Mitbestimmung für Schüler und ausreichend Lehrerstellen. Daß im Land Berlin gespart werden muß, ist ihnen schon klar. „Nur“, fragt sich Eric-Paul Mock, „gibt es nicht andere Möglichkeiten, zu sparen?“ An ihrer Käthe-Kollwitz-Schule sitzen in der 7. Klasse jeweils 32 Schüler, fallen Stunden aus, fehlen Chemikalien für Experimente. Demonstrativ halten sie das Transparent ein Stück höher.
Friedlich ziehen die SchülerInnen durch Berlin – trotz des massiven und provozierenden Polizeiaufgebots. Einige Kilometer weiter, am Nollendorfplatz, kommt es zu einem kleinen Zwischenfall. Ein Lautsprecherwagen wird von 30 Polizisten eingekesselt und aus dem Demonstrationszug herausgeholt. Der Vorwurf: Es sei Musik abgespielt worden, die dem Ansehen der Bundesrepublik schade. Gegen einen der Veranstalter, Matthias Kempf vom Unabhängigen Schülerzusammenschluß, wird Anzeige erstattet. Erhard Laube, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sagt: „Die Polizisten konnten keine Angaben darüber machen, um welches Lied oder um welchen Tatbestand es sich handeln sollte.“ Im Laufe des Protestmarsches werden acht Jugendliche festgenommen.
Am Breitscheidplatz an der Gedächntiskirche demonstrieren die Schüler noch einmal ihr Anliegen. „Wird die Schule übermorgen privatisiert?“ ruft Antje Vieweger vom Unabhängigen Schülerzusammenschluß ins Megaphon. „Wird es bald ein Coca-Cola- Gymnasium geben?“ Die Menge buht. Yasemin Kalyia vom Robert-Koch-Gymnasium steht mitten im Gedränge und sagt: „Ich bin optimistisch, daß wir etwas bewegen.“ Schließlich seien Tausende gekommen, das werde, das müsse doch Wirkung zeigen.
Am Nachmittag setzte die Große Koalition ihre Haushaltsberatungen fort. Es gilt, 1997 ein Loch von 7,3 Milliarden zu stopfen. Beschlossen ist allerdings schon jetzt: Bis 1999 müssen noch 3.500 Lehrerstellen eingespart werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen