: Die Kapelle leuchtet
■ StipendiatInnen der Stuttgarter Akademie Schloß Solitude im Bethanien
Ein unentwegtes Zirpen erfüllt die Kapelle des Bethanien. Noch unangenehmer als das Geräusch sind die aberhundert Insekten, die der Chinese Huang Yong Ping in seiner „Terminal“-Installation eingesperrt hat. Kakerlaken, Eidechsen und schwarze Skorpione versammeln sich in kleinen Holzpferchen und Labyrinthen aus Plexiglas. Einige Käfer kopulieren um die Wette, andere knabbern sich gegenseitig an den Käferbeinen.
Am Ende der Ausstellung werden sie alle tot sein, gefressen vom letzten übriggebliebenen Skorpion. Denn Huang geht es um die Auslesemechanismen, nach denen auch die Welt da draußen funktioniert – Mythen, Märkte, Migrationen. Und man fragt sich: Muß das sein? Als Metapher ist die Installation des im Pariser Exil lebenden Künstlers nur ein Beleg fürs survival of the fittest, wiederum ins Tierreich verbannt. Und auch die Verwertungslogik der Insekten im Kleinen, die bloß die großen Raubzüge spiegelt, ist mehr naiv als lehrreich, und vor allem viel zuwenig differenziert.
Die BesucherInnen von „Linien & Zeichen“ sind trotzdem schwer beeindruckt, daß der Schock noch funktioniert. Vielleicht auch, weil die meisten anderen Arbeiten der insgesamt vierzehn StipendiatInnen aus dem Programm der Stuttgarter Akademie Schloß Solitude – darunter Micha Ullmans „Gedächtnis“-Kästen oder Wiebke Siems Verhüllungsentwürfe – eher dezent zu Werke gehen. Behutsam hat Heike Pallanca einige Fotos zwischen Betonplatten eingefaßt, auf denen sie das ehemalige Kreuzberger Krankenhaus dokumentiert. Besonders haben es ihr neben dem verwinkelten Heizungskeller die hohen Zierbögen des 1847 errichteten Baus angetan. Und von Karin Sander stammt ein Schuber mit Postkarten der Kapelle. Das Motiv strahlt in einem merkwürdig milden Weiß, wie ein puristisches Heiligtum. Der helle Schein ist Kulissenzauber – jede Ecke wurde mit unauffälligen Halogenlampen ausgeleuchtet.
Was immer die beiden Institutionen miteinander verbindet, die Architektur ist es nicht. Hier ein Hospital für die Arbeiterschaft Ende des 19. Jahrhundert, dort das Lustschloß aus Zeiten des Absolutismus. Jean-Baptiste Joly, der Direktor der Stuttgarter Akademie, sieht sein Haus in der Tradition der „Schule von Barbizon“, eine Weiterführung der Künstleridylle mit den Mitteln der Konzeptkunst. Sehr französisch. Und das Bethanien leidet unter den Kürzungen durch den Senat. „Für 1997 streben wir einen Gegenbesuch und eine Ausstellung des Künstlerhauses Bethanien auf Solitude an und hoffen, daß sich dafür noch ein Geldgeber finden läßt“, schreibt Michael Haerdter etwas lakonisch im Katalog.
Für „Linien&Zeichen“ kam der Sponsor aus Stuttgart, das Projekt wurde durch die Daimler- Benz AG gefördert. Der Konzern gibt sich trotzdem bescheiden; noch hat man kaum Erfahrungen mit dem Kulturbetrieb und hält es deshalb für besser, „der Kunst die Bühne zu bereiten und diese Bühen dann auch frei zu machen, sobald die Kunst sich auf ihr in Szene setzen will“.
Die eingeladenen KünstlerInnen haben dieser Botschaft nichts hinzuzufügen, weitgehend hält man sich mit Institutionskritik zurück. Ute Friederike Jürss zeigt ein Video mit einem ausnehmend hübschen Oktopus, dessen projizierte Saugnapfarme sich rhythmisch und phallisch in einer abgedunkelten Ecke winden. Cornelia Blatter hat sich mit ihrer Fotoreihe auf das Leben unter Stipendiaten beschränkt und allerlei Schloßgäste sehr privat bei der Morgentoilette abgelichtet. Von Susan Kealy wurde eine Vitrine mit Joseph Kosuths dreckiger Bettwäsche installiert, eine Spielart der alten Duchamp-Anekdote, wonach der bei seinen Besuchen bei Sammlern auch gern „Spuren“ hinterließ.
Sehr viel betulicher wirkt dagegen der Ornamentkreis aus Quarzsand, den Mariella Mosler in einem Seitenraum zurechtgeharkt hat. Auch der Verweis auf Bataille, Verschwendung und formale Nullpunkte kommt über den glatten Formalismus des Eingriffs nicht hinaus. Nur „Aktion Castle Fever“, die Arbeit von Susanne Stövhase und Sylvie Ungauer, rollt das ästhetische Feld aus einer Perspektive außerhalb des Kunstbetriebs auf. Per Preisausschreiben kann man sich für ein Wochenende auf Schloß Solitude bewerben – „der Rechtsweg ist ausgeschlossen“.
Im wirklichen Leben werden die StipendiatInnen von einer erlesenen Fachjury für Stuttgart ausgewählt. Harald Fricke
„Zeichen&Linien“, bis 17.11., Künstlerhaus Bethanien, Mariannenplatz 2
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen