: Die Mauer? Ein Bleistiftstrich!
An der 5. Oberschule in Berlin-Pankow unterrichten Lehrer aus beiden Stadthälften. Strenge Ossis, lockere Wessis? Schnee von gestern, sagen die Schüler ■ Von Constanze v. Bullion
Er swingt, schnippt mit den Fingern und greift in die Saiten seiner schrammeligen Holzgitarre. Zweimal singt der Mann mit John-Lennon- Hemd und schulterlangen Locken die Strophe, dann setzt dreistimmig der Schülerchor ein. „Poor man Lazarus“, ein Gospel mit schrägen Halbtonschritten und groovendem Rhythmus. Die Kids fangen leise an, rutschen die Okatven rauf und runter, dann schmettern sie los. Bis der Sopran sich mit dem Alt verheddert und die Jungs vom Baß alleine weiterbrummeln. Vor der Tafel wedelt Andreas Bunckenburg alias „Bucki“ mit den Armen. Noch mal von vorn. Im einem karg dekorierten Klassenraum der 5. Oberschule Berlin- Pankow, wo farblose Resopalmöbel neben einem roten Schlagzeug stehen, hat der Musiklehrer die Chorstunde eingeläutet.
Wiedervereinigter Schulalltag heißt das Stück, das in der Ostberliner Lessingstraße jeden Morgen ab acht Uhr aufgeführt wird. Die Darsteller: 265 SchülerInnen, fast alle aus Pankow, dem stillgelegten Regierungsviertel der DDR, 24 LehrerInnen, jeweils zur Hälfte aus West und Ost. Und: eine Schulleiterin, made in DDR. Ort der Handlung: ein Gymnasium im Aufbau, Klasse 7 bis 10, im Jahr sieben nach Mauerfall.
Die Szenerie bedient alle Klischees: ein dreistöckiger Schulbau aus bröckeligen Betonplatten, hell getüncht und bar jeder Phantasie. Von Lindgrün bis Graugelb changieren die Farben in der kleinen Eingangshalle, eine große Stahluhr mahnt zur Pünktlichkeit, dunkle Bronzeplatten belehren über realsozialistische Arbeitsmoral. Was wirklich los ist hinter den durchnumerierten Klassenzimmertüren, erzählen Julia Vetter, Christian Vogel, Christian Dankert und Michael Pomplun.
Die SchülervertreterInnen haben sich zwischen die Bücherstapel in der winzigen Bibliothek gesetzt und meckern erst mal so richtig los. Über „diese Schule, wo die meisten kuschen und sich alles vorschreiben lassen. Hier will doch keiner hin.“ Weil es nicht genug Geld für neue Farbe gibt, weil sie „die kaputten Netze von den Fußballtoren zerschnippeln und zu neuen Baketballkörben zusammenflicken müssen“. Auch der Chemieraum sei „wirklich ein Witz, da knallen ständig die Bunsenbrenner durch“.
„Her mit den Spenden!“ steht deshalb in der knallroten Schülerzeitung Bernd. Daß vom Berliner Pleitesenat keine Knete kommt, ist längst klar. Die 5. Oberschule ist dazu übergegangen, auf eigene Faust zu renovieren: Eltern beschaffen Farben, SchülerInnen streichen die Wände, es wird gebastelt, improvisiert – wie früher eben.
Wenn die Pankower Kids trotzdem nicht viel auf ihre Schule kommen lassen, dann hat das andere Gründe. Zum Beispiel die „absolut geniale Auswahl von Wahlpflichtfächern, also Spanisch, Informatik oder Astronomie“ oder die „gute Lernatmosphäre“. Oder „das coole Verhältnis der Schüler untereinander“. Und die Tatsache, daß Gewalt und Drogen nicht angesagt sind. „Da ist hier nüscht los“, erzählt Michael, „hier kennt doch jeder jeden.“ Auf „Jacke abziehen“ und „so bewaffnet rumrennen“ hat auch Christian Vogel „keinen Bock“. Mit Achselzucken quittiert er die Frage nach Politik auf dem Schulhof: „So zwei oder drei Glatzen“ gibt es schon, „aber der eine ist ein Muttersöhnchen, und der andere, der labert nur rum“. Daß sie „nie auf eine Schule im Westen gehen“ würden, ist klar für alle vier.
Der Westen, das ist die Skyline von Sozialbauten, nur ein paar hundert Meter hinter dem Schulhof. Das Märkische Viertel, größter Neubaubezirk Westberlins, ist für die Pankower SchülerInnen noch immer fremdes Territorium. „Wenn du auf das Gebiet da kommst, wirst du gleich angepißt“, erzählt Michael. „Bloß weil du keine Markenklamotten anhast“, ergänzt Christian. Der Blondschopf mit dem Ring im Ohr tut sich schwer mit den selbstbewußten türkischen Schülern, „obwohl ich der letzte bin, der was gegen Ausländer hat“. Michael will sich „nicht mehr von so 'nem kleinen Furzi mit Messer als Scheiß-Ossi anmachen lassen“. Türken in Pankow? „Die würden sich hier ganz schnell anpassen.“
An andere Importe aus dem Westen hat man sich gewöhnt: an die LehrerInnen. Bei denen wird nicht mehr gefragt, woher sie stammen. Nichts wissen wollen die SchülervertreterInnen vom Klischee der autoritären Ostlehrer und der lockeren Westlehrer. Julia ist es „total egal, woher die sind. Hauptsache, sie haben was drauf.“ Was drauf hat etwa „die Kische“. Frau Kischekat ist aus dem Osten, gibt Deutsch und ist „total locker, auf die sanfte Art“. „Ostlehrer sind klasse, besonders die älteren, die wissen, was los ist“, bestätigt Christian Vogel. Was nervt, schränkt Michael ein, sind die paar Pauker, die „zutiefst versumpft sind in der alten DDR-Einstellung mit harter Disziplin. Die schaffen es nicht, an sich zu arbeiten.“
Die Schulglocke schrillt, überall springen die Türen auf, große Pause. Schülerpulks schlurfen durch die Gänge, drängeln sich die Treppe hinunter in den Keller, vorbei an ein paar vergessenen Stehleitern und einer grünlichen Tür, wo draufsteht: „Arzt/Zahnarzt. Kein Eintritt ohne Aufruf“. Gedoktert wird hier nicht mehr, eine Küche wurde eingerichtet in dem Raum neben der Kantine. Eine Köchin schiebt Teller durch eine kleine Holzklappe, vor der Schülerinnen Schlange stehen. „Reis und was Gyrosartiges“, sagt eine und räumt bräunliche Reste vom Tisch. Geschmacksnote: „Geht so.“
Daß es warmes Essen gibt statt Milchschnitte, gehört für Helga Schultz-Lewitzka zu der „guten Atmosphäre, auf die auch die Eltern Wert legen“. Seit drei Jahren residiert die kommissarische Schulleiterin hinter ihrem staubfreien Schreibtisch in einem spartanisch eingerichteten Büro. Die Pädagogin mit der respektgebietenden Statur ist Russisch- und Englischlehrerin. Und daß sie sich nicht immer leichttut mit den Segnungen der Wende, will sie nicht leugnen. Jetzt rührt sie die Werbetrommel für ihre Schule, neue SchülerInnen müssen her. Denn aus den zehn Klassen der ehemaligen Gesamtschule sollen 13 werden. „Und daß da Westkollegen ihre Erfahrungen einbringen, das muß sein.“
Reibereien zwischen Ost- und Westpädagogen gehören nicht zu den Sorgen der Direktorin. „Daß es nach der Wende den großen Umbruch gegeben hat, ist Blödsinn“, meint sie. „Wir haben zwar die Schulstruktur komplett aus dem Westen übernommen. Aber fachlich und pädagogisch ist das alles nichts Neues. Eine mathematische Formel ist, wie sie ist, da muß man nicht stundenlang rumdiskutieren. Über das Antiautoritäre ist man ja weg. Disziplin muß sein.“
Nebenan im Lehrerzimmer sieht man das etwas anders. Symmetrie herrscht in dem hellen Raum, auf dessen Fensterbrett die steifen Zimmerpflanzen gedeihen, die es nur in Schulen gibt. Leben in die Bude bringen nur die Lehrer, die sich zusammensetzen und lossprudeln über ihren deutsch-deutschen Arbeitsalltag.
Von der „totalen Umstellung der Wende“ erzählt Mathelehrerin Sigrid Ludwig. Die energische Dame im marineblauen Kostüm steht seit 37 Jahren hinterm Pult, die längste Zeit in der DDR. „Irgendwie enttäuscht“ war sie schon, als sie von der Stasi-Schnüffelei ehemaliger KollegInnen erfuhr, „auch wenn ich's menschlich verstehen kann“. Sie selbst habe nein gesagt zu den Jungs vom MfS. Und 1989 hat Frau Ludwig nicht lange gefackelt: Sie wechselte in eine Westschule, „um die Vorurteile loszuwerden“. Da genoß sie die „wesentlich größere Freizügigkeit“, und „daß es Zeit gab, sich über Probleme und Kabbeleien auszusprechen“. Suspekt geblieben ist ihr „eine falsch verstandene Freiheit, da bleibt das solide Wissen auf der Strecke“.
Daß Leistung und gute Noten bei Eltern und SchülerInnen im Osten groß geschrieben werden, haben auch die WestlehrerInnen der 68er-Generation kapiert, die zum neuen Schuljahr nach Pankow gekommen sind. Doch bevor sie erzählen, wird umgezogen: in den Erdkunderaum, der vollgestopft ist mit aufgerollten Wandkarten, alten Stühlen und einem Tisch voller Kaffeetassen und Tabaksdosen. Es darf geraucht werden, gemütlich, diese Rumpelkammer.
Hier wird offen geredet: wie das ist mit dem kleinen Unterschied zwischen Ostlern und Westlern, mit offiziellen Sprachregelungen und heimlichen Unsicherheiten. „Rein gefühlsmäßig wäre ich schon lieber an einer Westschule geblieben“, gibt Erdkundelehrer Klaus Stelzer zu, der „erst mal richtige Bauchschmerzen hatte, in den Osten zu ziehen“. Daß man „umgesetzt worden“ sei nach Pankow, „um die Oberstufe hier einzurichten“, erzählt Deutschlehrer Wolfgang Hering und versteckt sein ironisches Schmunzeln hinter einer Wolke von Pfeifenrauch. „Ich nehme mich ganz schön zurück“, schiebt er nach, „weil ich den Eindruck habe, daß die hier Geborenen innerlich zurückzucken bei jeder Kritik. Manchmal habe ich Angst, daß sie sich bevormundet fühlen von uns.“
Ein Irrtum, wie sich herausstellt. Eine der „hier Geborenen“ heißt Gabriela Rose, gibt Erdkunde und Mathe und fühlt sich keineswegs bevormundet, „weil ich mir keinen abbreche, wenn ich nachfrage bei Kollegen, die mehr Erfahrung haben“. Von Ost-West-Konflikten will die junge Lehrerin nichts wissen. „Das einzige, was ich gedacht habe, als die Neuen kamen, war: endlich ein paar Männer.“
Den schwarzen Peter haben jetzt wieder die Westler, die ihre gemischten Gefühle erklären müssen. „Daß die Schüler wie ein Mann ihr Aufgabenheft rausziehen und notieren, was ich aufgebe, auch die größten Rüpel“, erzählt Deutschlehrer Hering, „das hat mich umgehauen.“ Seltsam findet er auch „diese mit Lineal gezogenen Bleistiftstriche, mit denen Wörter gestrichen werden. Das ist ja löblich, aber so „ein bißchen von früher“. Ostkollegin Claudia Mattschull, Deutsch und Englisch, versteht nicht ganz. „Ja, sollen die denn einfach drüberschmieren? Das hat doch mit einer effektiven Arbeitshaltung nichts zu tun.“
Mathelehrer Ralph Ostermann, ein freiwilliger Ostimmigrant, ist ein versöhnlicher Mensch. Er genießt „die friedliche Atmosphäre im Klassenzimmer“ und „kann viel von den neuen Kollegen profitieren“. Überrascht ist auch Biolehrer Stelzer, „daß man hier mit offenen Armen aufgenommen wird und sich sehr schnell assimiliert“. Ob zu dieser Assimilation auch der kleine weiße Zettel an der Pinnwand im Lehrerzimmer gehört, auf dem der Westlehrer Ostermann schreibt, daß Schüler R. „für jede Stunde eine Verhaltensnote in seine Hausaufgabenheft eingetragen bekommt“? Es klingelt zu letztenmal. Als die Gänge leer geworden sind, stapfen Julia und Christian die Treppe hinauf in den Musikraum. Da sortiert Chorleiter Bunckenburg die Noten. Der John- Lennon-Fan mit der ollen Gitarre, noch ein „umgesetzter“ 68er aus dem Westen? Christian lacht. „Überhaupt nicht, Bucki ist natürlich aus'm Osten.“
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