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Armut macht krank und Krankheit arm

Viele Obdachlose brauchen medizinische Hilfe, meiden aber die Arztpraxen oder sind nicht versichert ■ Von Matthias Fink

Arzttermine sind immer lästig. Einzelne Termine zur Untersuchung, zum Labor, zur Nachbesprechung lassen sich in einen geregelten Wochenablauf nur schwierig einfügen. Und dann sollte man besser noch frische Kleidung anziehen ...

Für Obdachlose ist eine solche Planung erst recht schwierig. Wer noch nicht weiß, wo er in der Nacht schläft oder ob das Geld zur Fahrt reicht, ob er sich vorher überhaupt waschen kann, geht oft lieber erst gar nicht zu einer Praxis. Mindestens zwei Drittel der Obdachlosen sind überdies gar nicht krankenversichert.

Obdachlosigkeit fördert viele Krankheiten, hinzu kommen weitere Lebensrisiken wie eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Gewalttaten. Und wer notgedrungen jede Arbeit annehmen muß, die ihm/ihr angeboten wird, läßt sich mitunter auf Bedingungen ein, die kein arbeitsmedizinischer Dienst durchgehen ließe. In einer Studie hat der Mainzer Internist Gerhard Trabert festgestellt, daß 90 Prozent der Obdachlosen, die er befragte, dringend ärztliche Behandlung benötigten.

Neue Wege sind also gefragt, Obdachlosen eine medizinische Versorgung zu ermöglichen, bei der sie nicht unbedingt den Weg durch ein reinliches Wartezimmer zurücklegen müssen. In verschiedenen deutschen Großstädten sind Hilfsprojekte entstanden, die sich an den Konzepten von „aufsuchender“, „mobiler“ oder „niederschwelliger“ Gesundheitsversorgung orientieren.

An diesem Wochenende treffen sich viele VertreterInnen von Obdachlosenprojekten zum bundesweiten Kongreß „Armut und Gesundheit“, den die Ärztekammer Berlin zum zweiten Mal veranstaltet.

Eines dieser Projekte ist das „Mainzer Modell“, bei dem die Hilfsangebote in vier Stufen gegliedert sind. Ambulante Sprechstunden werden einerseits in einem Wohnheim für Wohnungslose, andererseits aber auch in einer ambulanten Beratungsstelle angeboten. Letztere Sprechstunde, einmal wöchentlich in der Beratungsstelle des Diakonischen Werks, hat den Vorzug, daß hier auch Frauen hereinkommen, die den Weg in ein Heim voller alleinstehender Männer nicht gehen würden. Ein mobiles Angebot bildet die dritte Stufe. Das dazu erforderliche Fahrzeug, das mit Hilfe einer Spende von Phil Collins erworben werden konnte, soll Ende des Jahres erstmals eingesetzt werden. „Die Termine werden mit der Drogenberatung kombiniert“, erklärt Trabert. Für die vierte Stufe, die Unterbringung von pflegebedürftigen Obdachlosen, ist man noch auf der Suche nach einem geeigneten Wohnheim.

Das Mainzer Modell scheint Anziehungskraft zu entwickeln. „Durch Mund-zu-Mund-Propaganda steigt die Zahl der Hilfssuchenden“, berichtet Trabert. „Leute, die auf der Durchreise sind, machen bei uns etwa 50 Prozent aus.“

Für Nichtseßhafte ist es schwierig, ihren Gesundheitszustand beim Arzt belegen zu können. Hier könnte der „Erkrankungspaß“ helfen, in dem Krankengeschichte und Behandlungen eingetragen werden sollen. In Mainz sollen die Dokumente demnächst eingeführt werden. Den Vorschlag bekam Trabert von Betroffenen, als er sie nach Verbesserungswünschen fragte. Aber er warnt auch: „Man muß immer aufpassen, daß es nicht nach Reglementierung aussieht. Die Betroffenen sollen nicht den Eindruck bekommen, daß man sie überwachen möchte.“

Häufigste Befunde bei Obdachlosen sind Haut- und Atemwegserkrankungen. Mancher wird erst zum Pflegefall, weil nicht rechtzeitig geholfen wurde. „Wir haben etliche Patienten gefunden mit fortgeschrittenen Tumoren. Die wären früher durch das System durchgeglitten und letztlich wohl gestorben“, sagt Trabert.

Eine wichtige Hilfe erhielt Trabert von der für Mainz zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung Rheinhessen. Sie hat ihm eine „Ermächtigung“ erteilt, so daß er auch außer Haus arbeiten kann und damit diejenigen Obdachlosen erreicht, die keine Praxis betreten würden. Mit einer solchen Erlaubnis können Ärzte, die nicht niedergelassen sind, wie ein Kassenarzt abrechnen, verschreiben und auch Überweisungen in Krankenhäuser ausstellen.

Besondere Probleme gibt es jedoch für diejenigen Obdachlosen, die nicht krankenversichert sind. Sie können sich hilfsweise an das Sozialamt wenden und einen Schein für „Krankenhilfe“ verlangen, der in etwa dem Krankenschein entspricht. Der Anspruch ist zwar garantiert, aber nur im Prinzip: „Beim Sozialamt bekommt nicht jeder den Schein“, berichtet Jenny De la Torre, die als Ärztin in einem Hilfsprojekt am Berliner Hauptbahnhof tätig ist. Die Hemmschwelle, zum Amt zu gehen, wird durch solche Erfahrungen noch erhöht. Doch das Team hat den Kontakt zwischen Sozialamt und Hilfesuchenden verbessern können. „Immer mehr von denen, die wir betreuen, haben inzwischen Scheine.“

Ein Teil der Scheine dürfte demnächst überflüssig werden: Das „Gesundheitsstrukturgesetz“ von 1992 sieht in Artikel 28 vor, daß ab Januar 1997 alle, die vom Sozialamt „laufende Hilfe“ erhalten, von Amts wegen krankenversichert werden, AsylbewerberInnen ausgenommen. Wer dann erst mal die moderne Versicherungs- Chipkarte beim Sozialamt geholt hat, würde beim Arzt nicht mehr gleich als Almosenempfänger erkannt. Er habe die „große Hoffnung“, daß diese Änderung tatsächlich in Kraft gesetzt werde, sagt Wolfgang Pühl vom hessischen Sozialministerium. Teilweise werde aber noch kritisiert, daß das System nicht „kostendeckend“ arbeiten werde. „Wir können doch von Sozialhilfeempfängern nicht verlangen, daß sie kostendeckende Beiträge bringen“, erwiedert Pühl. Nach dem bisherigen Stand des Gesetzentwurfes sollen zudem Menschen, die keinen ganzen Monat in derselben Gemeinde zubringen, weiterhin mit den Krankenhilfescheinen vorlieb nehmen müssen. Die definitive Entscheidung soll in Kürze fallen – aber in einem anderen Gesetzespaket versteckt, wie Marita Völker, Pressesprecherin des Bundesgesundheitsministeriums, mitteilt: „Die entsprechenden Änderungen beim Sozialhilfegesetz und beim Asylbewerber-Leistungs- Gesetz werden im Rahmen des Jahressteuer-Gesetzes beraten.“

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