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Lebensenergie eingefangen

Der von Wilhelm Reich entwickelte „Orgon-Akkumulator“ erlebt eine Renaissance: Er soll die alles durchflutende kosmische Energieform „Orgon“ bündeln und heilend wirken ■ Von Martin Kaluza

Schön ist die Kiste nicht, die bei Katrin und Sven im Treppenhaus steht, aber ungeahnte Kräfte soll sie haben. Sie besteht aus Blech, Holz und Faserplatten. Die Kombination aus organischen und anorganischen Materialien soll kosmische Lebensenergie bündeln. Ich werde zu einer Probesitzung aufgefordert: Was folgt, ist meine erste Erfahrung mit einem „Orgon-Akkumulator“.

Sven holt mir einen Hocker und stellt ihn in den Kasten, der gerade so hoch und tief ist, daß ich darin sitzen kann. Die Tür wird zugeklappt, nur noch ein kleines Rechteck verbindet mich mit der Außenwelt. „Und?“ Noch nichts. „Tut sich nicht irgendwas?“ Die Luft wird schlechter. „Das liegt an dir selber. Merkst du kein Kribbeln, wird dir nicht wärmer?“ Vorerst nicht. Aber im Laufe meiner Nachforschungen wird sich ergeben, daß das durchaus nicht gegen die therapeutischen Kräfte des Akkumulators spricht.

Was genau in der metallausgekleideten Kiste hätte passieren sollen, wissen Katrin und Sven auch nicht – ein Freund hatte den Akkumulator bei ihnen untergestellt. Der Kasten sieht nicht so aus, als hätte er heilende Kraft oder gar eine magische Wirkung. Andererseits sieht man einer Fernsehantenne auch nicht an, wie sie funktioniert ...

Von dem Mineralwasser, das Sven zu Versuchszwecken in den Akkumulator gestellt hatte, ist Katrin immerhin schwummerig geworden, obwohl sie nicht von der Aufladung wußte. Ein vorläufiger Beweis – nur, für was? Eine Woche nach diesem ersten Selbstversuch erzählt mir ein Freund, daß sein Mitbewohner und dessen Kumpel einen Orgon- Akkumulator bauen wollen. Auch sie wüßten noch nicht hundertprozentig, wie er funktioniere. Die relevante Literatur werde gerade beschafft, man lese sich ein. Zeichnet sich also ein neuer Trend in der Selbstbehandlung und in der Bewußtseinserweiterung ab?

Die Kiste ist eine Erfindung des Psychoanalytikers Wilhelm Reich (s. Portrait), der seit den 20er Jahren die Aufhebung sexueller Unterdrückung propagierte und dessen Lehre nach seinem Tod in Vergessenheit geriet – bis sie Ende der 60er wiederentdeckt wurde, als Reich zur Galionsfigur der sexuellen Befreiung erkoren wurde.

Reich, der vor den Nazis in die USA geflüchtet war, glaubte, bei seinen bioelektrischen und physikalischen Versuchen zufällig eine alles durchflutende Energieform entdeckt zu haben – er nannte sie „Orgon“, eine Wortschöpfung, in der sich Organismus und Orgasmus vereinigen.

Reich entwickelte den Orgon- Akkumulator, mit dem er die kosmische Lebensenergie einzufangen erhoffte. Er begann mit Mäusen zu experimentieren, denen er Wunden zufügte und dann in den Akkumulator steckte. Das erstaunliche Ergebnis: Wunden und Verbrennungen sollen nicht nur erheblich schneller verheilt, sondern auch Schmerzen erheblich verringert worden sein.

Die amerikanischen Behörden sahen das anders und bezichtigten Reich der Quacksalberei: Er wurde wegen „Scharlatanerie“ angeklagt, und es wurde ihm sowohl untersagt, die von ihm konstruierten Akkumulatoren weiter zu verkaufen, als auch jemals wieder das Wort Orgon in einer seiner Publikationen zu verwenden. Weil sich Reich nicht an das Urteil hielt, wurden seine Kisten schließlich zerstört und seine Bücher zentnerweise verbrannt. Isoliert und von Paranoia geplagt – Reich glaubte, das Opfer einer stalinistischen Verschwörung zu sein –, starb er schließlich im November 1957 in einer Gefängniszelle.

Die Verfolgung in den USA hat viel zu seiner Legendenbildung beigetragen. Danach gab es wenig Diskussionen: Entweder man war Reichianer und sah in der Kiste eine der größten unterdrückten Erfindungen des Jahrhunderts, oder man tat Reich als Quacksalber ab. Dadurch wurde die Angelegenheit erst so richtig Esoterik- tauglich.

Der Arzt Heiko Lassek arbeitet beim Berliner Wilhelm-Reich-Institut und setzt den Akkumulator seit Beginn der 80er Jahre zu Therapiezwecken ein. Er läßt Erklärungen über die Funktion zunächst beiseite und verweist auf die praktischen Behandlungserfolge: Außer daß der Akkumulator als Mittel zur Selbstfindung dienen könne, ließen sich mit vorzeigbarem Erfolg grippale Infekte behandeln, bei Wunden und Verbrennungen werde die Heilung beschleunigt. Zum Teil sei die Orgon-Energie auch zur therapeutischen Behandlung von Krebspatienten einsetzbar, vor allem in der Schmerztherapie.

Lassek erklärt die Wirkung grob damit, daß die Orgonenergie den Parasympathikus stimuliert, also den Teil des vegetativen Nervensystems, der für Entspannung und Zellerneuerung zuständig ist. Inzwischen werden – wenn auch erst nach langen Gutachterverfahren – in Einzelfällen die Behandlungskosten sogar durch einige Krankenkassen übernommen. „Manchmal überzeugt es eine Kasse, wenn für einen zuvor stationär behandelten Patienten 20.000 Mark ausgegeben wurden und bei mir nur 5.000 Mark nötig sind und sich zudem ein Behandlungserfolg einstellt“, sagt Lassek. Diese Anerkennung könne man als Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der Orgontherapie nehmen, meint er. Ihre Befürworter hoffen, daß sie bald ähnlich anerkannt sein wird wie die Homöopathie und andere alternative Heilmethoden, die noch vor einigen Jahren für Humbug gehalten wurden.

Freilich solle das nicht zu der Annahme verleiten, die Kiste sei ein universales Wundermittel: „Gerade diejenigen, die auf eigene Faust mit dem Akkumulator umgehen, sollten daran denken, daß er nicht ungefährlich ist. Er hat Nebenwirkungen und Gegenanzeigen wie andere Therapiemittel auch“, warnt Lassek. Blutkrebs, Leukämien und Bluthochdruck würden in der Kiste gefährlich verstärkt, bei Asthmatikern provoziere die Bestrahlung Anfälle.

Jürgen Fischer aus Worpswede ist, so erklärt er, der weltweit einzige kommerzielle Hersteller von Orgon-Akkumulatoren. Pro Monat baut er zwischen fünf und zehn der Kisten. Dabei hat er verschiedene Modelle im Angebot: Da das spartanische Grundmodell ästhetischen Ansprüchen nicht genüge, gäbe es die Energiebox auch als Möbelstück, das sich harmonisch in die Wohnzimmereinrichtung einfüge. Wer schon so hinfällig ist, daß er sich nicht mehr aus dem Bett herausbewegen kann, muß mit der – weniger effektiven – Orgon-Decke vorlieb nehmen.

Da es Fischer aber vorrangig um die Sache gehe und er es nicht darauf abgesehen habe, durch den Vertrieb reich zu werden, stelle er jedem Interessenten gerne detaillierte Anleitungen für den Eigenbau zur Verfügung, sagt er. Diese findet man sogar im Internet (http://www.doit.de/orgon). Mit den geschätzten Kosten von 540 bis 1.350 Mark – je nach Ausstattung – spart man gegenüber dem Fertigkasten gut die Hälfte.

Außerdem finden sich im Internet auch acht Gespräche, die Fischer mittels zweier Medien mit Reich im Jenseits geführt haben will. Unter dem Stichwort „Willy on Earth Again“ erfahren wir, daß Reich im Jenseits weiterarbeitet und lesen seine Ansichten über Religion und Göttlichkeit, Revolution und orgonische Ernährung (dabei erfahren wir auch, daß er keine Sprossen mag, denn er finde es „eklig, beginnendes Leben in sich reinzufressen“).

Im Jenseits soll Reich den Akkumulator zudem um Rosenquarze ergänzt haben, so Fischer. Mit dieser Weiterentwicklung lasse sich die Herzenergie der Engel bündeln. Fischer, der ahnt, daß das einige Skepsis hervorrufen mag, die auch auf den Orgon-Akkumulator zurückzuschlagen droht, erklärt schnell: „Das ist kein therapeutisches Gerät, wie der Orgon-Akkumulator. Es ist etwas Spirituelles.“ Die Lizenzgebühren werden übrigens nicht ins Jenseits, sondern an Fischer abgeführt. Auch Lassek hat schon einmal in so einem Ding gesessen: „Es fühlt sich tatsächlich anders an als ein normaler Orgon-Akkumulator, aber mir persönlich war der zu stark.“

Daß ich nun bei meinem ersten Selbstversuch in der Kiste keine Wirkung gespürt habe, soll laut Lassek jedenfalls damit zusammenhängen, daß ich bei bester Gesundheit war. Hustensaft wirkt schließlich auch nur, wenn man heftigen Husten hat. Ich werde also warten müssen, bis die nächste Grippewelle kommt ...

Literaturtips:

Myron Sharaf: „Wilhelm Reich – Der Heilige Zorn des Lebendigen. Die Biographie“. Simon + Leutner 1994

Jürgen Fischer: „Orgon und DOR – Die Lebensenergie und ihre Gefährdung. Texte zu Wilhelm Reich und zur aktuellen Orgonomie“. Simon + Leutner 1995

James De Meo: „Der Orgon-Akkumulator“. 2001 Verlag 1994

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