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„Man lebt zur Zeit nur dafür“

129 Jahre gab es beim Süßwarenhersteller Wissol keinen Streik. Seit einer Woche aber ist ein Großteil der Belegschaft aus Protest gegen die Lohnkürzung im Krankheitsfall im Arbeitskampf  ■ Aus Mülheim Walter Jakobs

„Geh doch mal auf die Straßenkreuzung. Da sieht dich auch unsere Geschäftsleitung.“ Dem Ruf folgt Franz-Josef Möllenberg sofort. Umringt von ein paar Dutzend mit weißen und roten „Streikschürzen“ bewehrten Mitarbeitern, hält der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung Genuß Gaststätten (NGG) den Arbeitgebern der Süßwarenbranche vor, „Kranke bestrafen“ zu wollen. Dagegen zu streiken sei eine „gerechte Sache“. Weil die andere Seite kompromißlos daran festhalte, so fährt Möllenberg bei prasselndem Regen fort, „können wir guten Gewissens unseren Arbeitskampf fortsetzen“.

Diejenigen, die am späten Montagnachmittag am Haupteingang des Mülheimer Schokoproduzenten Wissol den Werksverkehr zu behindern suchen, sehen das genauso. Sieben Tage lang geht das nun schon. Rund um die Uhr harren junge Bandarbeiterinnen und altgediente Techniker vor den Werkstoren aus. Alle fünf Stunden ist Wachwechsel. Von den Stahlarbeitern entliehene Koksöfen spenden ein wenig Wärme in hastig errichteten kleinen Zelten. Der erste Streik seit 129 Jahren! „Es klappt sehr gut“, freut sich Ulrich Minks, „ohwohl keiner damit gerechnet hat, daß es so schnell gehen würde.“ Der 42jährige Mechaniker, seit 20 Jahren bei Wissol, gibt sich zuversichtlich, „daß wir so lange durchhalten können, bis wir die volle Lohnfortzahlung tarifvertraglich gesichert haben“. Um das dauerhaft zu erreichen, seien die meisten bereit, jetzt „auch gewisse Einschränkungen“ hinzunehmen. Zu Weihnachten gebe es dann ein „paar Geschenke weniger“.

Nach den üblichen Weihnachtsvorbereitungen steht den meisten Streikenden zur Zeit ohnehin nicht der Sinn. „Im Moment ist das alles weit weg“, sagt die Betriebsratsvorsitzende Doris Kluthhausen, „man lebt zur Zeit nur dafür.“ Doch längst nicht alle der gut 1.000 Wissol-Beschäftigten machen mit. Die meisten Angestellten passieren ebenso Tag für Tag die Werkstore wie ein Teil der Produktionsarbeiter. Nach Angaben des Geschäftsführers Walter Vieth beteiligen sich etwa ein Drittel der Arbeiter nicht am Streik. An Plakaten wie „Streikbrecher sind ehrlos“ vorbei huschen sie in den Betrieb und sorgen so dafür, daß 40 Prozent der Produktion weiterlaufen.

Die Stimmung zwischen den beiden Lagern wird täglich gereizter. „Langsam wird es kritisch“, sagt eine Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte. Als am Montag die Streikenden die Torfahrt blockieren, fährt ein Autofahrer im Schrittempo in die Menge. Der Vorfall geht noch einmal glimpflich aus. Gegen den Fahrer läuft eine Anzeige. Immer wieder schaffen es die Streikenden zwar, Lastwagen vorübergehend zu blockieren, aber am Ende seien doch alle zum Ziel gekommen, bilanziert Geschäftsführer Vieth am Dienstag morgen. „Ich persönlich bin vor drei beladenen Lkw hergegangen, und dann waren sie draußen“, berichtet er. Den Streik nennt er „verantwortungslos“. Schon jetzt habe das Unternehmen wegen Lieferschwierigkeiten Kunden im Ausland verloren. Er verstehe die Gewerkschaften nicht, denn „wir haben doch für unseren Betrieb angeboten, 100 Prozent solange weiterzuzahlen, bis ein neuer Manteltarifvertrag vereinbart ist“. Ihm komme das wie ein „Stellvertreterstreik“ vor.

Nun, so „unschuldig“ ist die Geschäftsleitung von Wissol an der Situation nicht. Zunächst hatte sie versucht, die Urabstimmung über den Streik per einstweiliger Verfügung zu verhindern. Der Versuch scheiterte zwar am Amtsgericht Oberhausen, aber diese „Sauerei“, so ein Gewerkschafter, sorgte im Betrieb für zusätzliche Empörung und bescherte der Gewerkschaft eine fast hundertprozentige Streikzustimmung bei ihren Mitgliedern. Während andere Firmen mit der Gewerkschaft einen Haustarifvertrag abgeschlossen haben, wollte Vieth lediglich eine Betriebsvereinbarung. „Doch das war für uns nicht akzeptabel“, sagt Gewerkschaftssekretär Bernd Heyder, weil solche Zusagen im Konfliktfall nichts wert und auch nicht streikfähig seien. Deshalb, so Heyder, „wollen wir eine Garantie im Tarifvertrag“.

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