: „Stelle Se des Tischche widder hie!“
Bei Emmi B. müßte Staub gewischt werden, und Anna G. will nicht trinken: Die Arbeit mit pflegebedürftigen Alten ist zeitaufwendiger, als die Abrechnungsvorschriften für Pflegedienste es zulassen ■ Aus Frankfurt Heide Platen
Emmi B. ist 93 Jahre alt, hat eine schwere Arthrose in den Hüftgelenken und kann sich nur mühsam bewegen. Sie guckt abwechselnd hilflos mit Kleinmädchenblick und schreit dann wieder mit Kommandostimme: „Butterbrötchen will ich!“ Und: „Frollein, kenne Se net emal des Tischche widder ordentlisch hiestelle?“ So nicht, nein so! Und die Tischdecke akkurat auf Kante legen, Standuhr aufziehen? Den Nippes auf dem Wohnzimerschrank neu ordnen?
Die Fenster geputzt und die Gardinen aufgehängt, das hat schon der Zivildienstleistende gemacht. Daß sie das alles nicht mehr selber kann, das quält Emmi B. Der Pflegedienst kommt täglich. Altenpfleger Traugott H. redet ihr gut zu, nimmt sie erst einmal in den Arm, setzt sich zu ihr auf die Bettkante, hilft auf den Toilettenstuhl, wäscht ihr vorsichtig das Gesicht, wärmt die Unterhose auf dem Ofen vor und wechselt sie und die Inkontinenzeinlage fast so diskret wie ein mitelalterlicher Arzt.
Dann soll der Pfleger endlich Frühstück machen und der Zivi abstauben. Der muß aber gehen, seine Zeit ist aufgebraucht. Also nicht? „Na ja“, sagt Emmi B. resigniert, „dann eben am Freitag.“ Und verteidigt ihr Privatleben gleich wieder in Richtung Küche: „Suchen Sie was Bestimmtes?“ Emmi B. ist geistig hellwach, interessiert sich für die Wohngemeinschaft einer der PflegerInnen ebenso wie für den blamablen Abstieg der Frankfurter Eintracht. Ein ehemaliger Nachbar besucht sie noch regelmäßig.
Zum Wochenende wird Emmi B. den mobilen Essensdienst wechseln. Beim alten bekam sie „siebe Tag lang nix wie Erbse un geele Rieb“. Der Träger des alten Essensdienstes kommt und sie empfiehlt ihm gleich einen Stellenwechsel. Der Zivi geht. „Tschö, Sunny boy“, ruft sie hinterher. Emmi B. wehrt sich gegen ihre Abhängigkeit von dem privaten Alten- und Krankenpflegedienst mit einer Mischung aus Charme, Angst und brüchiger, widerborstiger Aggression.
Die Freie Alten- und Krankenpflege „Kontakt“ betreut seit zehn Jahren jährlich über 200 Patienten regelmäßig, vor allem in den Frankfurter Stadtteilen Bornheim, Nord- und Ostend. Das sind bis zu 150 Menschen pro Woche, meist Frauen und über 80 Jahre alt. Für viele der alten Frauen, sagt Pflegedienstleiterin Elvi Walther, „ist die Zeit der Scham vorüber“. Manche wollen sich allerdings nicht von jungen Männern betreuen lassen: „Das respektieren wir.“ Die anderen arrangieren sich.
Das kann bis zu regelrechter Anmache gehen. Anna L. ist gerade 93 Jahre alt geworden. Meist braucht es Zeit, bis sie am späten Vormittag die Tür öffnet. Geklingelt wird überall, obwohl die BetreuerInnen zu den Wohnungen einen Schlüssel haben. Anna L. verriegelt oft von innen. Sie schläft tief, kommt nur schwer hoch und wirkt dann oft verwirrt. Nach und nach wird sie wieder klar, raucht eine Zigarette nach der anderen und erzählt davon, wie schön es war, als ihr Mann noch lebte und sie zusammen „in Südamerika“ waren.
Wann das war, in welchem Land, daran kann sie sich nicht mehr erinnern. Vor langer Zeit eben. Aber den Namen der Stadt weiß sie noch. Ihr Mann war Maler, sie spielte Klavier, und alle, alle, auch der Bürgermeister, haben sie geliebt. „Anita! Anita!“, haben sie immer wieder gerufen. Einmal hat sich das Flußboot losgerissen und einmal der Stadtteil gebrannt. Deutschland mag sie nicht, sie schimpft auf Land und Leute. Und Südamerika fängt wieder von vorne an.
Und dann fällt ihr ein, daß sie ein Foto von der Reise hat, „das muß noch irgendwo sein“. Und vergißt das wieder – und ist ganz im Hier und Jetzt. Handfest prüft sie die Waden des Pflegers, lacht, nennt ihn „Spatz“ und „goldiger Kerl“, dann beschimpft sie ihn: „Du alter Strolch! Du Deibel, du!“ Sagt auch: „Dich möcht ich mal nackig sehn!“ Traugott H. spült, putzt, sammelt Kippen auf, holt Zigaretten. Und er tut das, was immer die meiste Zeit braucht. Er redet ihr gut zu, zu trinken. Das heißt dabeistehen oder -sitzen, unauffällig nachfüllen, die Tasse in Reichweite rücken, vorsichtig mahnen. Traugott H. füttert den Wellensittich. Anna L. sagt zum Abschied: „Jetzt bin ich so eine alte Kuh!“
Warum trinken die alten Leute so widerwillig und immer zu wenig? Elvi Walther meint, daß die meisten Menschen zu wenig trinken. Kaffee am Arbeitsplatz oder mit der Familie, gemeinsame Mahlzeiten, abends ein Bier oder Wein, das fällt bei den meisten alten Menschen weg. „Die haben einfach die alten Trinkgewohnheiten beibehalten.“ Anna L. möchte Kaffee, den süßt sie mit mindestens acht Stückchen Zucker, ehe sie ihn runterbringt. Emmi B. hatte Pfefferminztee bekommen. „Das“, sagt Traugott H., „muß man eben auch wissen.“
Ärzte werden nach dem „Sachwert“ entlohnt, nach der Behandlung also, die „von der Sache her“ geboten ist. Der pflegebedürftige Durchschnittsmensch wird nach dem Betreuungsbedarf in verschiedenen Alterstufen „gemittelt“, erst weniger, dann mehr. Und die Pflegetabelle richtet sich nicht nach dem individuellen Bedarf, sondern nach dem „Zeitwert“, also der Zeit, die es durchschnittlich braucht, eine Tätigkeit zu verrichten. 450 Pflegepunkte, das sind genau 45 Minuten Zeit für die „große Morgentoilette“, das Frühstück darf dann einschließlich Zubereitung und Abwaschen zehn Minuten dauern.
Pflege, fürchtet Elvi Walther, könne so ganz schnell dazu führen, den überlebenswichtigen Bereich „Mobilität“ einfach zu vernachlässigen, wenn sich Gedächtnis- und Bewegungsübungen nicht rechnen: „Die Leute bleiben dann einfach im Bett.“ Eine Kontrolle finde „zur Zeit nicht oder nur bei massiven Beschwerden statt“.
Mängel sieht Elvi Walther auch bei der Kontrolle pflegender Verwandter, die „Kontakt“ ein oder zweimal jährlich durchführen muß: „Da sind dann die Betten bezogen und die Patienten herausgeputzt.“ Qualifizierte Animation und Rehabilitation aber, „das können viele Verwandte gar nicht“.
Statt dessen, so Stephan Schröter, der Geschäftsführer von „Kontakt“ habe die Bürokratie enorm zugenommen: „Und es kommt jeden Tag etwas Neues.“ Als da sind Pflegebuchführungsverordnung, Pflegeabgrenzungsverordnung, die Pflegestatistikverordnung, die Begleitstatistik.
Elvi Walther kritisiert besonders die Prozedur der Einstufung alter Leute in die drei Pflegekategorien: „Bei der Bewertung wollen die fitten Alten nicht zugeben, daß sie vieles nicht mehr können, weil sie Angst vor der Heimeinweisung haben.“ Nicht ganz zu Unrecht, meint Stephan Schröter: „Wenn das alles so bleibt, ist die Versorgung von Alleinstehenden und stark Hilfsabhängigen nicht mehr gewährleistet.“ Dann müßten die Menschen, entgegen allen neueren Erkenntnissen, doch wieder in Heime eingewiesen werden. Diese Tendenz sieht er auch in der Modifizierung des Paragrapen 3a des Bundessozialhilfegesetzes angelegt.
Da hieß es noch 1984, daß die „offene Hilfe“ in jedem Fall Vorrang habe. In der Fassung von 1994 steht noch, der Träger der Sozialhilfe solle darauf hinwirken, Heimeinweisungen „soweit wie möglich“ zu vermeiden. Die seit August dieses Jahres gültige Fassung, will die Hauspflege nur zulassen, wenn sie nicht „mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist“. Elvi Walther: „Ergebnis ist, daß die immer dann ins Heim kommen, wenn sie älter und in einer Phase sind, wo die ambulante Pflege teurer wird.“
Anna G., die jüngste an diesem Vormittag, ist 83 Jahre alt. Sie ist schon im Hausflur zu hören, kreischt laut und schrill. Anna G. ist zeitweilig völlig verwirrt, brabbelt seltsame Silbenkaskaden, dann wieder, trotz der nur noch drei Zähne im Unterkiefer ganz verständliche Sätze: „Ich bin nicht so dumm, wie ihr denkt.“ Dann schreit sie unartikulierte Schimpfkanonaden gegen ihre Mitbewohner los. Und teilt lächelnd mit: „Ich hab blimmblamm!“ Und bekräftigend: „Tschengtsinn!“
Der Pfleger erinnert sie an ihren Heimatort. Da sind Erinnerungsfetzen, davon weiß sie noch und von ihrem Vater. Die Fenster in Anna G.s Wohnung sind mit Schlössern gesichert, weil sie die immer aufriß und auf die Straße brüllte. Die Nachbarn hatten sich beschwert. Drinnen sind die drei Zimmer fast leer, als ob sie gerade dabei sei, auszuziehen. Es fehlt all der Nippes, der bei den beiden anderen Frauen die Wohnung zustopfte, all die Kleinigkeiten, die sich in einem langen Leben angesammelt haben.
Das liegt nicht nur daran, daß Hindernisse aus dem Weg geräumt sind, damit sie sich an ihrem Laufgestell durch die Zimmer bewegen kann. Da, wird im Haus vermutet, hat die Verwandtschaft schon vor ihrem Ableben allerlei fortgeholt. Anna G. ist „zeitlich, örtlich, persönlich und situativ desorientiert“. Auch sie muß immer wieder zum Trinken ermuntert werden, diese tägliche, nervenaufreibende Gratwanderung zwischen Freiwilligkeit und Überredung. Der Pfegebogen empfiehlt außer dem Pflegeziel „intakte Haut“ ausdrücklich: „Sie ernst nehmen!“ „Bei ihr geht ganz viel über den Augenkontakt“, sagt Traugott H. Und lächelt sie an.
Die 13 „Pflegemodule“, die die abrechenbaren Leistungen minutiös festlegen, sind vom Alltag mit den Alten meilenweit entfernt. Wohin gehört es, daß Traugott H. sich auch bei Anna G. Zeit nimmt, um ihr zuzuhören? Daß bei Frau L. der Wellensittigkäfig gereinigt werden muß? Wohin, daß die wechselnden PflegerInnen alle angewiesen sind, ihr täglich Kuchen mitzubringen, weil sie den am ehesten ißt? Zigaretten holen? Mit ihr im Sommer Eis essen gehen oder „einfach zusammen aus dem Fenster gucken“? Wie ist Anna L.s Friseurbesuch abzurechnen, beim dem sie ihre schütteren Locken kastanienrot einfärben ließ? Eine Pflegerin notierte zusätzlich, daß sie ihr die Fingernägel lackiert hat. „Pech gehabt“, sagt Stephan Schröter lakonisch. Das kann man nicht abrechnen.
Und was tun, wenn Anna L. ihre schlechten Zeiten hat und sich gar nicht mehr pflegen lassen will, lieber sterben möchte und immer wieder sagt: „Laßt mich in Ruhe!“ Was tun, wenn fast täglich eine halbe Stunde der zweistündigen „großen Pflege“ damit draufgeht, bei Anna L. zu klingeln und zu klopfen? Welche der 21 Tätigkeiten in vier Bereichen ist das? Körperpflege, Ernährung, hauswirtschaftliche Versorgung? Am ehesten wohl Mobilität, denn irgendwann kommt sie ja doch zur Tür.
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