piwik no script img

Ein Lehrstück in Sachen Demokratie

Im nordrussischen Gebiet Kostroma haben RentnerInnen einen Volksentscheid durchgesetzt. Es geht um den Weiterbau eines Atomkraftwerkes. An diesem Sonntag wird abgestimmt.  ■ Aus Kostroma Klaus-Helge Donath

„Wir Russen unterschreiben alles, ohne es vorher zu lesen!“ Alexej lacht spitzbübisch. „Schrecklich, nicht wahr?“ Der fröhliche Rentner übertreibt selbstverständlich. Weder sind seine Landsleute besonders leichtgläubig noch erinnern sich die wenigsten an die dunklen Zeiten, als im Lande jeder seine Schuld bekannte, nur um die nackte Haut zu retten.

Dem lebenslustigen Pensionär einen Wunsch auszuschlagen, fällt indes schwer, man muß ihm einfach vertrauen. Alexej Alexejewitsch ist die Seele der Bürgerinitiative „Im Namen des Lebens“. In der nordrussischen Stadt Kostroma sammelte sie Unterschriften, um ein Bürgerbegehren gegen den Weiterbau eines Atomkraftwerkes auf den Weg zu bringen. Zunächst schien es aussichtslos, den Urnengang gegen die geballten Interessen des Atomministeriums und regionaler Politiker durchzuboxen.

Am kommenden Sonntag findet das Referendum nun doch statt. Der erste Volksentscheid, den Bürger in Rußland selbst erzwungen haben. Nach monatelangem Sammeln konnte die Bürgerinitiative im Frühjahr Vollzug melden. Sie hatte mehr als die 35.000 Unterschriften zusammen, die das Gesetz verlangt, um ein Referendum in einem Verwaltungsgebiet abzuhalten. Solange sich ein AKW im Bau befindet, entscheidet die Region. Ist es erstmal seiner Bestimmung übergeben, muß bereits die gesamte Russische Föderation über eine Stillegung beschließen.

Die letzten vier Wochen vor dem Stichtag hat der vergnügliche Rentnerverein alle größeren Orte im Gebiet Kostroma bereist. Jelena Schutowa verabschiedet die Aktivisten an diesem Morgen. Sie wolle sich noch einmal überzeugen, ob auch alles in Ordnung sei. Mühsam bewegt sich die 75jährige am Stock vorwärts. Ihre Einzimmerwohnung mit Blick auf die Wolga dient der Initiative als Versammlungsraum, Frau Schutowa bewacht das Telefon, koordiniert und organisiert. Früher leitete sie den Lehrstuhl für Deutsch an der Pädagogischen Hochschule.

Ein Bus sowjetischer Bauart wartet im Hof. Die Umweltorganisation Greenpeace, die der Bürgerinitiative mit Logistik, Geld und drei jungen Helfern unter die Arme greift, hat ihn angemietet. Ihr Regenbogen ziert die verbeulte Außenwand, notdürftig kaschiert er die Altersschwäche des Gefährts. Beim Schalten hüllt es die Umgebung in eine tiefschwarz rußige Abgaswolke. Im Westen hätte Greenpeace ein derartiges Fahrzeug, wenn nötig mit Gewalt, stillgelegt. Hier dient es einem höheren Auftrag, die Ökologen beweisen länderspezifischen Zugang.

Susanino, sechzig Kilometer nördlich von Kostroma, ist heute das Ziel. Ein verschlafener Ort mit 6.000 Seelen. Er liegt auf einer Anhöhe über der endlosen Niederung von Kostroma. Dreißig Kilometer weiter befindet sich der Bauplatz des AKWs. Alexej hält den Leimpott und führt den Pinsel, Ludmila hoch in den 60ern klebt Plakate. Erstes Objekt, das Gerichtsgebäude. Die Richter berufen sich auf ihre Neutralität und untersagen die Plakatierung. Die beiden stiefeln weiter.

An der Radio-und Fernsehwerksatt, eine Art Holzverschlag, die schon länger keinen Kunden mehr gesehen hat, machen sie halt. Valerij, der in Hausschuhen aus der Tür heraustritt, nörgelt „alles kleistern sie zu“, läßt sie aber gewähren. Auch er ist gegen den Bau des AKWs. „Die entschiedensten Gegner sind aber unsere Frauen“, sagt er.

Das Thema bewegt die Familien. Ludmila schimpft mit Alexej, der es ihr nie recht machen kann. Offenkundig verstehen sich die beiden auf diese Art. Sie flitzen weiter in die Polizeiwache. Mißmutig schaut der Milizionär drein, hört sich ihre Bitte aber an. Er wird die Broschüren und Handzettel bei der nächsten Tour mit in die entlegenen Dörfer nehmen. Ist die Ordnungsmacht immer so kooperativ? „Bisher hat die Polizei Hilfe nie verweigert“. Im Flur hängen die Konterfeis der Kandidaten für den Posten des Gouverneurs, der auch am Sonntag gewählt wird. Sie quetschen ihren Aufruf noch dazwischen, aber: „Eigentlich halten wir Wahlen und Referendum auseinander“, erklärt Alexej.

Am zentralen Platz, der durch gähnende Weite seine Funktion mitteilt, steht eine handgemalte amtliche Tafel, die auf Wahlen und Referendum hinweist. Das 20. Jahrhundert hat noch keinen Einzug gehalten, Informations- und Meinungsfreiheit sind indes gewährleistet. Lenin, der in frischem Silberanstrich schräg gegenüber die Stadtverwaltung bewacht, mußte das zulassen.

Susanino ist in der russischen Geschichte kein unbedeutender Ort. Von hier aus bestiegen die Romanows zu Beginn des 17. Jahrhunderts den Zarenthron. Bauer Iwan Susanin rettete damals den neuen Zaren Michail Romanow vor radikalen Kosaken, die ihm nach dem Leben trachteten. Der Bauer bezahlte das mit seinem Leben. Im Ort erinnert nichts an diese Episode, der der russische Komponist Michail Glinka die Oper „Ein Leben für den Zaren“ widmete.

Olga und Irina, die vor kurzem in Kostroma das Gymnasium absolviert haben, plaudern in einer windgeschützten Ecke. Beide sind arbeitslos. Die Glühbirnenfabrik ist geschlossen, die Leinenfabrikation hat die Produktion eingestellt, die Landwirtschaftsbetriebe dümpeln vor sich hin. Trostlos sieht es aus, immer mehr Jugendliche verfallen dem Alkohol. Muß da nicht das Versprechen der AKW-Unternehmensleitung verlocken, mindestens 20. 000 Arbeitsplätze zu schaffen und das Staatssäckel mit Steuergeldern zu füllen?

Die Mädchen sind trotzdem dagegen. Arbeitsplätze mit so hohem Risiko lehnen sie ab. Aber sie engagieren sich auch nicht wie ihre Großeltern. Bei den Alten steckt mehr dahinter, als die Angst vor dem Atom. Für sie ist es ein Lehrstück in Sachen Demokratie. Man hat ihnen formale Rechte gegeben, die sie nun mit Leben füllen wollen. Sie löcken wider den Stachel der Macht und probieren aus, wie weit sie gehen können. „Mir macht das Leben heute verdammten Spaß. Ob man's glaubt oder nicht“, meint Alexej, „wir haben jetzt Rechte und können etwas erreichen“. Man müsse nur den nötigen Atem mitbringen, schränkt er vorsichtig ein.

Damit das Referendum Erfolg hat, müssen mindestens fünfzig Prozent aller Wahlberechtigten, das sind im Gebiet Kostroma rund 290.000 Wähler, gegen den Weiterbau stimmen. Das bereitet dem Chefingenieur Alexander Podoinizin in der Direktion des Atomkraftwerkes denn auch das größte Kopfzerbrechen. Die Unternehmensleitung, gesteht der Chef, hat der Erfolg der Initiative kalt erwischt. Keiner hätte damit gerechnet, daß die Bewegung die Unterschriften zusammenbekommt.

Er sagt es zwar nicht, aber man spürt es: Allzu große Hoffnungen hegt er nicht mehr. Die Wählerstruktur im Gebiet Kostroma ist stark überaltert, und die Pensionäre zählen zu den zuverlässigsten Wählern. Sie werden am Sonntag alle zu den Urnen gehen. Was passiert danach? „Wir lösen alles auf und verkaufen die Reste“, klagt Podoinizin, gerade so, als drohe der Menschheit eine gewaltige Katastrophe.

Soviel gibt es allerdings noch gar nicht zu verkaufen. Das Atomkraftwerk gleicht nämlich eher einem Potemkinschen Dorf. 1983 wurden Arbeiter im Wald angesiedelt und errichteten die ersten Versorgungsbauten. Ein kleiner Ort mit dem Namen „Tschistije bore“ (saubere Bohratome), wurde aus dem Boden gestampft. Heute leben in den achtstöckigen Häusern sechstausend Menschen. Nur etwa hundertfünfzig führt das Atomministerium noch auf seiner Gehaltsliste. Die Spezialisten haben längst das Weite gesucht. Denn der Reaktor wurde nie gebaut. Auch wenn Alexej und seine Mitstreiter daran zweifeln und irgendwelche unterirdischen Bauten vermuten ... Reminiszenzen aus sowjetischen Zeiten.

Am 27. April 1986 sollte das Genehmigungsverfahren eingeleitet werden, einen Tag nach dem nuklearen Fallout in Tschernobyl. Seither gibt es kein lizensiertes Atomprojekt in Rußland, und auch die Arbeiten an den Versorgungseinrichtungen wurden 1990 endgültig eingestellt. Es fehlt nicht nur an einem zugelassenen Reaktor, dem Atomministerium ging ohnehin das Geld aus. Dergleichen wirft ein grelles Licht auf den Zustand der russischen Atomindustrie.

Das Referendum in Kostroma würde nur einen Schlußstrich ziehen. Podoinizin und seine Mitarbeiter, deren Büros in der geplanten Klinik und Entzugsanstalt des AKWs untergebracht sind, verlören ihren Arbeitsplatz. Sie verwalten den Stillstand. Die meisten Bewohner in Tschistije Bore möchten, daß das Werk trotzdem errichtet wird. Allerdings wären sie schon zufrieden, wenn überhaupt Arbeitsplätze geschaffen würden, meint ein Mann vor dem Lebensmittelgeschäft im Zentrum. „Endlich eine klare Entscheidung.“

Zurück blieben nur die einfachen Arbeiter, die ein recht kümmerliches Dasein fristen. Auf dem Lagerplatz des AKWS, wenige Kilometer weiter, häuft sich Gerümpel. Fundamente sind versackt, Stahlträger und Eisenbahnwaggons rosten vor sich hin. Dazwischen haben sich ein paar Handwerksbetriebe niedergelassen, ein Sägewerk und eine Tischlerei. Selbst wenn das Atomministerium wieder zu Geld kommen sollte, es müßte schon aus Sicherheitsgründen einen neuen Standort ausfindig machen. All das braucht seine Zeit. Frühestens in fünfzehn Jahren würde das neue Werk stehen, schätzt Podoinizin.

Die Bürger von Kostroma werden das voraussichtlich vereiteln. Die Bevölkerung hat die Gefahren der Atomtechnik begriffen. Noch vor wenigen Jahren reagierten die meisten Russen gleichgültig auf Umweltbedrohungen. Heute lassen sich die Folgen von Tschernobyl nicht mehr verheimlichen. Dafür sorgten nicht zuletzt die russischen Medien, die die Gleichgültigkeit der Macht im Umgang mit den Opfern der Katastrophe regelmäßig anprangern.

Nicht einmal die Liquidatoren, die in das brennende Tschernobyl geschickt wurden und nach und nach mit ihrem Leben bezahlen, erhalten die ihnen zugesagte medizinische Versorgung. In Rußland ist jeder sein eigener Herr. Der Staat kümmert sich nicht mehr darum. Zum erstenmal schreibt er aber auch nichts vor und eröffnet die Möglichkeit, ihn herauszufordern. Das ist die Erkenntnis der Alten in Kostroma.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen