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Mehr Saufen, weniger Trauern

■ Ein Buch relativiert Klischees über Wolfgang Borchert

„Unsere Frauen hier, es sind alles Nutten wie alle Schauspielerinnen, haben etwas sehr Nettes“, – das hat Wolfgang Borchert nicht negativ gemeint, als er 1941 an der Landesbühne Ost-Hannover schauspielerte. Im Gegenteil. Voller Begeisterung bekennt er: „Saufen, huren, spielen – Leben! Theater, es gibt nichts Schöneres!“

Borcherts Buch Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente zeigt den Schauspieler und Autor in neuem Licht. Es enthält unveröffentlichte und neu gefundene Briefe an Freunde, Mentoren, Verleger und seine Eltern, von 1939 bis zu Borcherts Tod 1947.

Drei Stimmungsphasen hat Borchert in dieser Zeit erlebt. In den ersten Jahren war er fröhlich ausgelassen, schrieb bilderreiche Briefe und beschwor Freundschaften ebenso poetisch wie pathetisch. Die zweite Phase begann 1943, als Borchert verhaftet wurde, weil er einen Witz über Joseph Goebbels erzählt hatte. Niedergedrückt und melancholisch kultivierte der Dichter seine Rolle als Opfer des Systems. Borcherts tödliche Krankheit prägte die dritte Phase. Sein Humor war wieder da, wenn auch oft zum schwarzen Humor geworden.

Ein einsamer Dichter war Borchert zu keiner Zeit: „Er hatte ein schönes Zuhause, die Eltern haben ihn gepflegt, seine verlegerischen Freunde haben auch alles gemacht für ihn, was sie nur konnten“, sagt einer der beiden Herausgeber, Gordon J. A. Burgess. Die Briefe relativieren den Eindruck von Borchert als Widerständler gegen das Nazi-Regime. Bei dem Goebbels-Witz, schreibt er, habe er sich „leider gar nichts gedacht“. Diese Witze seien „eigentlich eine Schweinerei“, sagte er in einer Vernehmung durch die Nazis. Später bekennt er, daß „12 Jahre Heucheln und Runterschlucken und Flüstern ... wohl unser aller Charakter verdorben“ habe.

Daß Borchert ein „durchschnittlicher“ Mensch war, soll eine Ausstellung zum Buch zeigen. Organisator Bernd M. Kraske ist auf Klischee-Jagd: Weg vom ewigen Nein-Sager, weg vom „Borchert mit Trauerrand“, hin zum Bild vom lebensfreundlichen, optimistischen Dichter: Ein schwieriges Unterfangen! Ralf E. Werner

Wolfgang Borchert: „Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente“, Rowohlt 1996, 320 Seiten, 14,90 Mark. Die Ausstellung „Wolfgang Borchert. Leben. Werk. Wirkung.“ bis zum 9.2.1997, Schloß Reinbek

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