: Eine Stunde jenseits der Zeit
Der gute Kinofilm sollte beschwerlich sein oder: Vierhundertfünfzig Minuten Bilder aus der Tiefebene – „Satanstango“, ein monumentales Werk des ungarischen Regisseurs Béla Tarr ■ Von Detlef Kuhlbrodt
In „Titty Twist in Hell“, dem neuen Film des Berliner Underground-Wieners Carl Andersen, spielt Claus Löser vom Kino in der „Brotfabrik“ den Filmemacher „Wum Wunders“. Wunders steht in der Unterwelt und empört sich über allzuviel „Mösen und Schwänze“, die in populären Filmen für schale Instantbefriedigung sorgen würden.
Zwar machen sich „Mösen und Schwänze“ in publikumsträchtigen Filmen eher rar, aber macht ja nichts. Jedenfalls sollte ein guter Film beschwerlich sein wie „das Durchqueren der Wüste Sahara ohne Wasser“. In „Satanstango“ regnet es siebeneinhalb Stunden in Schwarzweiß. Passieren tut eigentlich nichts. Während die Protagonisten noch auf lebensverändernde Ereignisse warten, hat das Publikum nach den ersten Stunden längst aufgegeben, schläft, träumt oder vergißt die Zeit und das Warten. Denn alles ist ja schon da.
In der ungarischen Tiefebene liegen die halbvergessenen Siedlungen unendlich weit voneinander entfernt, und ein grauer Himmel hängt so tief, daß er die Menschen zu erdrücken droht. Einfache Leute in zerschlissenen Kleidern, einprägsame Gesichter in traurigen Küchen; eine stillgelegte landwirtschaftliche Maschinenstation.
In dumpfer Untätigkeit gehen die Tage im ständigen Regen vorbei und fallen ins desinteressierte Vergessen. Jeder versucht den anderen zu betrügen. Die meisten trinken, und wie: Nach drei, vier Stunden gibt es eine Kneipenszene, deren finster-betrunkene Verzweiflung unglaublich ist. Eine Stunde jenseits der Zeit lallt ein Besoffener immer die gleichen Sätze, sinnlos bedrängt jemand die Frau, mit der er tanzt, sinnlos wehrt sie ihn ab, um ihn dann wieder ranzulassen, sinnlos schlagen sich welche; betrunken liegt jemand auf einer Bank und streckt ab und an sein Bein aus, um die Tanzenden zu ärgern. Einer geht raus und übergibt sich. Ein kleines Mädchen mit abstehenden Ohren quält Katzen, bevor es sich umbringt. Die Protagonisten sind zu Tode entschlossen, allein es fehlt ihnen die letzte Konsequenz.
Ein dicker Doktor (Peter Berling) sitzt an seinem Fenster, starrt auf das immer gleiche Leben draußen und schreibt auf, was geschieht, d.h., er stellt Vermutungen an über das Nichtgeschehen. Ununterbrochen trinkt er aus einer riesigen Korbflasche, raucht und verläßt sein Zimmer erst, als der Schnaps alle ist. Herzinfarktgefährdet schwankt er gen Abend über schlammige Wege. Später kippt er um, bleibt liegen. Wie ein Stück Vieh wird er am nächsten Morgen ins Krankenhaus gekarrt.
Eigentlich wollen die Einwohner fliehen, doch die graue Depression hat ihnen jede Entschlußkraft geraubt. So warten sie auf den Retter. Das könnte Irimás sein, ein falscher Prophet, der ein bißchen an Django, ein bißchen an Vuk Drasković erinnert und die Untätigkeit der Bewohner anklagt und ihnen Lohn und Brot verspricht und woanders ein besseres Leben. Wütend zerschlagen die Einwohner ihre Häuser und ziehen in noch trostlosere Ruinen.
Der Doktor bleibt zurück und schreibt weiter über das, was er vermutet, was die anderen in ihren Häusern tun mögen. „Ich müßte mich endlich entscheiden. Hier kann ich nicht bleiben“, sagt er sich. „Nichts rührte sich, wie auch er sich nicht bewegte, bis zwischen den stummen Gegenständen ringsum auf einmal ein gereiztes Gespräch begann.“
„Satanstango“. Ungarn 1991–94, sw, 450 Minuten, Regie: Béla Tarr, Kamera: Mihály Vig, mit István Horváth, Erika Bók, Peter Berling. Nur am 15.12., 11 Uhr, Regenbogenkino
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