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Lesetips zur Liebe

Christian Semler, fester, freier Autor Foto: P. Langrock/Zenit

Saverio, Sohn eines nach Alexandria emigrierten italienischen Anarchisten, ein junger, hauptsächlich mit der Unterhaltung von Touristinnen beschäftigter Tunichtgut, entdeckt in der Hinterlassenschaft seines Vaters ein Bändchen mit Gedichten des großen Lyrikers Giuseppe Ungaretti. Er trifft den Greis anläßlich seiner Spurensuche in Rom und erhält von ihm ein altes Dokument, in dem die Hinrichtung des Ketzers Pascal vermerkt wird. Dieser Pascal war zu Beginn des 16. Jahrhunderts Vogt in einer oberitalienischen Gebirgsgemeinde mit uralter rebellischer Tradition, aus der auch die Familie Saverios stammt. Voilà – Alexandria und das Ketzernest, dies sind die beiden Orte und die Erzählfäden, die Maurizio Maggiani in seinem Roman „Der Mut des Rotkehlchens“, kunstvoll zusammenstrickt. Ein gelehrtes Buch, aber keinesfalls öde. Wir profitieren aufs angenehmste von der Manie Saverios, die Lebensumstände des Abweichlers Pascal in Erfahrung zu bringen, und avancieren im Handumdrehen, ganz nach Umberto Ecos Vorbild, zu Experten der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Ketzerei in Italien. Aber anders als bei Eco saufen wir nicht ab in obskuren Texten und verlaufen uns nicht im Irrgarten der Semiologie. Etwas mystisch geht es schon zu bei Maggianos Entdeckungsreise, aber die Selbstironie des Ich-Erzählers bewahrt uns vor allzu dichten Nebelschwaden.

Alexandria, genauer das an den Schiffswerften gelegene Viertel Ras-et-Tin, ist der zweite Ort der Verzauberung. Eine Ruine der kosmopolitischen Weltstadt. Immer noch nisten dort Reste des alten Völkerwirrwarrs, die sich der ordnenden Hand Kairos entziehen. Es trifft sich für die LeserInnen, daß Saverio, Held und Alter ego des Erzählers, ein vorzüglicher Koch ist, dessen Künsten schließlich die schöne Sua, Ex- Terroristin, Ärztin und Amateur- Religionswissenschaftlerin, erliegt.

Maurizio Maggiani, „Der Mut des Rotkehlchens“, Aus dem Italienischen von Barbara Schaden, Berlin Verlag, 1966, 362 S., 39,80 DM

Jan Feddersen, Inlandsredakteur Foto: T. Müller

Beim Band „Sexuelle Störungen und ihre Behandlung“ stößt nur der Titel ab. Darüber hinaus ist das vom Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch herausgegebene Kompendium eine Sammlung dessen, was über das Sexuelle momentan gewußt werden kann. Gemeinsame Thesen aller Autoren und Autorinnen: Das wichtigste Sexualorgan des Menschen ist der Kopf. Anders als in dem vergriffenen Vorläuferband „Therapie sexueller Störungen“ ist die jetzige Zusammenstellung frei davon, alles, was von der heterosexuellen Norm abweicht, als abweichend zu stigmatisieren. Im Gegenteil: Homo- und Heterosexualität seien gleichwertige Prägungen. Perversionen? Gibt es nicht, nur Sonderbarkeiten, Lebensgeschichten, die entschlüsselt werden können und dann das Exotische verlieren. Und: Martin Dannecker wartet mit der ersten guten Erklärung für das Feminine am und im schwulen Mann auf. Dröge im Stil, sind die Texte wie eine unerwartet gute Erzählung lesbar. Das Sexuelle ist individueller und spannender, als alle Sexshows im TV glauben machen: Gott sei Dank.

„Sexuelle Störungen und ihre Behandlung“. Hrsg. v. Volkmar Sigusch, 351 Seiten, Stuttgart/Göttingen 1996, 68 DM

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