: Das doppelte Gesicht der Fluchthilfe
■ Schlepper haben die 16 kürzlich aufgefundenen Flüchtlinge nach Deutschland geschmuggelt. Für die einen sind die Schleuser skrupellose Menschenhändler, für die anderen waren und sind sie die einzigen Re
Berlin (taz) – Die 16 Kinder und Männer aus Bangladesch und dem Irak, die zum Jahreswechsel in der Nähe Königs Wusterhausens mit Erfrierungen aufgefunden wurden, kamen höchstwahrscheinlich mit professioneller Fluchthilfe in die Bundesrepublik. Eduard Zimmermann hatte diesem Berufsstand eine eigene Fernsehsendung gewidmet: „Vorsicht Falle! Nepper, Schlepper, Bauernfänger“. Schlepper – ein Berufsstand, dem das Innenministerium und der Bundesgrenzschutz große Aufmerksamkeit schenken.
Nach der Verschärfung des Asylartikels im Grundgesetz Mitte 1993 waren viele Asylbewerber auf die Hilfe von kundigen Helfern angewiesen, um überhaupt die Bundesrepublik zu erreichen. 1995 ging zwar die Anzahl der illegalen Einreisen zurück, die Zahl der an den (meist ost-)deutschen Grenzen festgenommenen „Schleuser“ stieg jedoch von 1.788 auf 2.323, die ausnahmslos sofort wieder aus dem Land gewiesen werden, wie es im Jahresbericht zur Kriminalitätslage des Bundeskriminalamtes (BKA) in Wiesbaden heißt.
Die meisten Schleusungen erfolgten mit Hilfe ortskundiger Führer zu Fuß über die im Sommer grünen und im Winter frostigen Grenzen Tschechiens, Polens und Österreichs. Die Flüchtlinge nehmen bewußt jedes Risiko in Kauf, um in den gelobten Westen zu gelangen. Die meisten von ihnen wissen, daß ihre Helfer ihren Service nicht aus gutherzigen Gründen zur Verfügung stellen – sondern Geld wollen. Bis zu 40.000 Mark kostet die Flucht in den Wohlstand.
Seit 1993 gibt es vermehrt Schleusergruppen, die teilweise mit großer krimineller Energie ihren Job verrichten. Verantwortung für ihre Kunden übernehmen die vorwiegend aus Deutschland, Polen, der Türkei und Tschechien kommenden Männer nicht. 1995 wurden in Ungarn in einem Lastwagen 18 Flüchtlinge aus Sri Lanka auf dem Weg nach Deutschland erstickt aufgefunden.
Auch über das offene Meer gelangen Flüchtlinge nach Deutschland. So wurde im Sommer 1995 eine Gruppe mit 72 Afghanen auf Rügen festgenommen. Sie kamen auf einem umgebauten Kutter über die Ostsee und waren mit Rettungsinseln vor der Küste ausgesetzt worden. Über welches Land die Männer und Frauen kamen, konnte nicht mehr ermittelt werden – die Drittstaatenregelung wurde daher nicht angewendet. Der Trend, so heißt es beim BKA, gehe in Richtung „Großschleusung mit bis zu vierzig Personen“.
Schleuser haben keine gute Presse. Doch ohne sie hätten die Verfolgten keine Chance – gerade Deutsche sollten das nachfühlen können: So verhalf der US-Journalist Varian Fry über 1.000 Emigranten zur Flucht vor den Nazis – darunter auch den Schriftstellern Lion Feuchtwanger, Franz Werfel und Heinrich Mann. 1940 hatte er im von deutschen Truppen nicht besetzten Marseille ein Fluchtbüro eingerichtet. Zu seinen Mitarbeitern zählte auch der Schriftsteller Hans Sahl.
Fry galt in Sachen Fluchthilfe als wahrer Künstler: Er bestach in Marseille eiskalt Beamte und Polizisten und nahm die Dienste der Unterwelt in Anspruch. Von der Öffentlichkeit vergessen starb Fry 1967 in den USA.
Zahlreiche Deutsche verhalfen während der Nazizeit unter großem Risiko jüdischen Mitbürgern und politisch Verfolgten zur Flucht über die Grenze. Viele machten es umsonst, andere ließen sich bezahlen – reich wurde aber niemand damit. SAP-Mitglied Willy Brandt wurde im April 1933 von Travemünde aus mit dem Motorkutter „TRA 10“ über die Ostsee nach Dänemark gebracht. Und: Weltstar Marlene Dietrich und der Regisseur Ernst Lubitsch heuerten Fluchthelfer für zurückgelassene Bekannte in Deutschland an.
Doch nicht nur zwischen 1933 und 1945 waren Schlepper in deutschen Angelegenheiten unterwegs. Noch während der deutschen Teilung wurden sie hierzulande bejubelt – und zwar als „Fluchthelfer“. Im DDR-Jargon waren sie „kriminelle Menschenhändler“. So mancher, der heute ganz oben steht, versuchte im geteilten Berlin auf seine Art und Weise, den Osten zu untergraben. Etwa der heutige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen und sein Jugendfreund Klaus-Rüdiger Landowsky, heutiger CDU-Fraktionschef in Berlin. Die beiden Christdemokraten, so berichtete 1977 Quick, hätten über ihre damalige Anwaltskanzlei DDR-Bürgern zur Flucht verholfen.
Krieg im Heimatland war stets einer der ersten Gründe für Flucht. Mehr als 3.000 Deutsche setzten sich Ende der fünfziger Jahre von der französischen Fremdenlegion ab, als Algerien um seine Unabhängigkeit von Paris kämpfte. Falsche Pässe, Geld und sonstige Hilfe erhielten sie vom sogenannten Rückführungsdienst in Nordafrika. Dessen deutsche Kontaktmänner waren unter anderem der spätere Staatsminister im Bundeskanzleramt, Hans-Jürgen Wischnewski. Der damals linke Sozialdemokrat unterhielt exzellente Kontakte zur Befreiungsbewegung FLN. Auch die Journalisten Bernt Engelmann und Gerd von Paczensky dienten diesem „Rückführungsdienst“ als Kontaktmänner. sev/fg/nan/JaF
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