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Das wandernde Urvieh Mensch

Ein Sammlerforscher auf Gletschersuche im Garten Eden: Bruce Chatwins posthume Textsammlung „Der Traum des Ruhelosen“ erzählt von der ernüchternden Konfrontation des Nomaden mit der nomadischen Realität  ■ Von Jürgen Berger

In den posthumen Texten Bruce Chatwins fällt einer besonders auf. Eine Abteilung der losen Sammlung ist „Geschichten“ überschrieben und enthält eine verrückte Erzählung, die keine ist. Oder etwa doch? Jedenfalls hat man es mit einer Dokumentation zu tun, in der Chatwin berichtet, er sei Anfang der siebziger Jahre Mitarbeiter einer Glaziologin gewesen. Dr. Estelle Neumann brachte damals die gesamte Zunft der Gletscherforscher gegen sich auf, indem sie behauptete, „daß die Emission von fossilen Brennstoffen in die Atmosphäre nicht die geringste Auswirkung auf die Temperatur von Gletschern hat“. Eine geradezu geschäftsschädigende Behauptung, denn immerhin leben die meisten Glaziologen mehr oder weniger von der Theorie des bevorstehenden Wärmekollapses unseres blauen Planeten.

Dr. Estelle Neumanns Lieblingsprojekt allerdings war ein bisher unentdecktes Tal in Patagonien, für das auch Bruce Chatwin schwärmte. Sie wußte von diesem Tal aus schriftlichen Berichten. Chatwin wußte von ihr davon und wollte das Tal vor ihr entdecken. Bis zu diesem Punkt der autobiographischen Dokumentation – oder ist es vielleicht doch eine Erzählung? – hat Chatwin völlig glaubhaft reale Personen, Situationen und Zeitabläufe eingeführt. Als er sich dann allerdings in das Tal aufmacht, kommt er in einem Garten Eden an, und man zweifelt allmählich, ob es sich hier wirlich um einen Tatsachenbericht handelt.

Merkwürdig, denn eigentlich findet und ordnet ein Sammlerforscher wie Chatwin Fakten und Dinge, um sie dann wie ein Mosaik zusammenzusetzen. Aber er ist eben nicht nur dokumentarischer Reiseschriftsteller, sondern alles in einem: phantasierender Erzähler, ehemaliger Student der prähistorischen Ärchäologie und Experte für moderne Kunst bei Sotheby's.

Chatwin hat mit dieser Erzählung offensichtlich auch eine Travestie des Erlebnisses geschrieben, das wir allzugut kennen. Häufig ist die phantasievolle Vorbereitung einer Reise das Eigentliche und die Konfrontation mit der „Realität“ während der Reise eher ernüchternd? Chatwin, der Travestiekünstler, hält dagegen: Ihr könnt in eurer Wohnung noch so viele Fakten sammeln und eine Dingwelt horten. Es wird nie gegen das Flüchtige und Unerwartete ankommen, das ihr während einer Reise erlebt!

Ein Grundgedanke, der sich durch die Textsammlung zieht, deren Einzeltexte auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben und Mitte der siebziger Jahre an so unterschiedlichen Orten wie der Vogue und The Times Literary Supplement erschienen. Chatwin geht es immer um das dialektische Verhältnis von Wohnen und Unterwegssein; um die ambivalente Gefühls- und Geisteslage des Urviehs „Mensch“, gleichzeitig Nomade und Seßhafter zu sein. Eine von Chatwins Fragen: Wie halten wir es mit Besitz und Tauschwert der Dinge, die wir um uns sammeln und mit denen wir unser Territorium markieren? Eine Frage, die schlicht zu beantworten ist, hält man es wie ein unerwarteter Besucher, den Chatwin bei einem Freund kennenlernte. Der Schreibmaschinenvertreter war mit einem kleinen Koffer unterwegs. Mehr besaß er nicht; er trug sein Territorium bei sich und ertrug, daß seine Grenze dort war, wo der Koffer aufhörte.

So leben kann nicht jeder. Chatwin ließ sich von ersten Tantiemen in London eine Wohnung einrichten, in die er zurückkehrte, um zu schreiben; aus der er floh, wenn er geschrieben hatte und wieder Eindrücke sammelte. Zwei Aufsätze widmete er explizit diesem Wandel: „Die nomadische Alternative“ und „Es ist eine nomadische Nomadenwelt“ waren Entwürfe für ein Buch zum Thema. Der erste Text gleicht einem Gang durch die Jahrhunderte mit Blick auf die Konfliktlinie zwischen Steppenvölkern und Stadtzivilisationen. Dem Versuch der „Städter“, die Nomaden als Barbaren zu denunzieren, und den Unterschieden in ihren Kunstproduktionen. „Die Kunst der Stadtzivilisation tendiert zum Statischen, Soliden und Symmetrischen. (...) Die nomadische Kunst tendiert mehr oder weniger dazu, tragbar, asymmetrisch, dissonant, rastlos, entkörperlicht und intuitiv zu sein. Naturalistische Darstellungen von Tieren, häufig in wilder Bewegung, werden mit einem zwanghaften Drang zum Ornament kombiniert.“

Gegenstücke zu diesen kulturanthropologischen Essays sind kurze Monographien. In einer von ihnen, Mitte der achtziger Jahre in Vanity Fair erschienen, seziert er Curzio Malaparte. Ausgangspunkt ist die capresische Villa des italienischen Narzisten und Kriegsberichterstatters unter Mussolini – ein Liebestempel, geschmückt mit „riesigen faschistoiden Skulpturen“. Chatwin arbeitet Malapartes Ästhetisierung des Faschismus heraus, im Gegensatz zu seiner sonstigen Zurückhaltung (in einem kleinen Aufsatz, überschrieben mit „Ein Ästhet im Krieg“, beschäftigte er sich einige Jahre zuvor mit Ernst Jünger, als beschreibe er eine der Welt entrückte Erscheinung) wird er im Falle seines Hauptwerks „Kaputt“ auf ungewohnte Art und Weise grob. „Ekelerregend und verlogen“ sei der Roman. Malapartes surrealistischer Stil sei genauso kitschig wie die pompösen Inszenierungen der Nazis, deren Zerstörungswerk er in Reportagen beschrieb.

Politisch reflektiert war er allerdings nicht, da muß man Salman Rushdie zustimmen, der in den achtziger Jahren mit ihm Australien bereiste und in einer Besprechung von Chatwins „What am I doing here“ in der taz vom August 1989 meinte: „Seine politischen Überzeugungen waren, um es freundlich auszudrücken, meistens ein wenig naiv.“ Chatwin ließ sich von seinem Sensorium für ästhetische Erscheinungsformen leiten und würzte das Ganze mit sozialpsychologischen Tiefenbohrungen. In „Der Traum des Ruhelosen“, einem späten Folgeband von „What am I doing here“, liefert er en passant eine kleine Theorie des Kunstsammlers und -handels: „Der Sammler entwickelt ein moralisches System, aus dem er Menschen ausschließt. (...) Die Kunstsammlung ist der verzweifelte Versuch, einen Mißerfolg abzuwehren, ein persönliches Ritual, um die Einsamkeit zu heilen. Der Kunstmarkt ist die öffentliche Seite dieser Privatreligion, und seine offensichtliche Irrationalität scheint allen gängigen Handelsgesetzen zu widersprechen.“ Hinzuzufügen wäre dem nichts mehr, höchstens der Kommentar eines ehemaligen Direktors des New Yorker Metropolitan Museum, der laut Chatwin mit Blick auf bildungsbeflissene Museumspräsentationen meinte: Das sei „die Kunst, falsche Perlen vor echte Säue zu werfen“.

Bruce Chatwin: „Der Traum des Ruhelosen“, Hanser Verlag. 256 Seiten, 36 DM.

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