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Hoffnung für Bombays elende Straßenkinder

Auf den Straßen Bombays hat Sunil gelernt, um einen Schluck Tee und ein Stück Brot zu kämpfen. Ein Zuhause findet er nur im Shelter der Salesianer  ■ Text und Fotos von Peter Dammann

Sunil wacht auf und reibt sich mit seinen schmutzigen Fäusten den Schlaf aus den Augen. „Ich hab' von meinem Freund auf dem Bahnhof geträumt. Er saß allein in einem kleinen Boot auf dem Meer.“ Sunil ist sechs oder sieben Jahre alt, er weiß es selbst nicht so genau. Warum er von seinen Eltern weggelaufen ist, will er nicht erzählen. 1.500 Kilometer hat er sich aus dem Norden Indiens mit dem Zug – ohne Fahrkarte – nach Bombay durchgeschlagen. „Lange“, sagt er, habe er gebraucht. Danach hat er auf dem Victoria Terminal gelebt.

Gestern hat die Sozialarbeiterin Sharon ihn getroffen und ins Shelter mitgebracht. Das Shelter, vor acht Jahren von Priestern der Salesianer-Gesellschaft „Don Bosco“ gegründet, wird von dem deutschen Kinderhilfswerk Terre des Hommes finanziert. 80 Straßenkinder haben hier ein Zuhause gefunden, während der Regenzeit sind es doppelt so viele. Nur drei Erwachsene arbeiten in dem ehemaligen Kindergarten, aber weder Vater Xavier noch Vater Barnebe noch Sharon sind zu sehen. Mißtrauisch beobachtet Sunil die anderen Jungen, die wie er auf dem Steinfußboden der großen Theaterhalle geschlafen haben. Im Hof wird das Frühstück, Milchtee und trockenes Brot, vorbereitet. Als Sunil von Ganesh aus der Reihe der Jungen, die sich vor der Küche anstellen, gestoßen wird, stürzt sich der 1,30 Meter kleine Sunil auf den drei Kopf größeren Ganesh. Er schlägt mit den Fäusten, er tritt mit den Füßen. Als sich andere einmischen, schmeißt er mit Steinen. Auf der Straße und in den Bahnhöfen hat er gelernt, um einen Schluck Tee und ein Stück Brot zu kämpfen, sich zu wehren, sonst hätte er nicht überlebt.

Nach dem Frühstück will Sunil, daß Sharon ihn zurück zum Bahnhof bringt. Eigentlich absurd, daß Sunil, der sich durch halb Indien nach Bombay durchgeschlagen hat, nicht allein zum sieben Kilometer entfernten Bahnhof findet. Aber es geht um mehr. Sharon weiß das. Sunil testet Sharon, sie muß sich Vertrauen erwerben und – Sunil muß seine Erfahrungen im Shelter überdenken, um zu wissen, ob er dort leben will.

Sharon fährt nachmittags mit Sunil zum Victoria Terminal, einem imposanten Bahnhof im gotischen Stil. Auf den Gleisen steht die Kloake, darin tummeln sich Ratten. In der Bahnhofshalle, an dem Kiosk mit dem Fast food, bei dem sie sich gestern getroffen haben, verabschiedet Sunil sich.

Vielleicht Zehntausende Straßenkinder leben in Bombay. Sie sind unzählbar, weil sie in der ganzen Stadt unterwegs sind. Sie sind schmutzig und stinken. Sie tragen Lumpen und laufen barfuß. Sie haben Läuse, Krätze, eitrige Wunden und Geschlechtskrankheiten. Sie sind Analphabeten und gehen nicht in die Schule. Sie verspielen beim Kartenspiel und bei Wetten ihr Geld. Spielen ist eine ihrer elementare Süchte, ihr ganzes Leben ist für sie ein großes Spiel. Sie lieben Hindi-Filme, kitschige Seifenopern, in denen getanzt und gesungen wird. Sie können die Lieder auswendig. Ausgestoßen von der Gesellschaft, leben sie in Gangs, vier bis acht Kinder, mit ihren eigenen Regeln. Ihre Welt ist das Rotlichtviertel. Sie gehen zu Prostituierten und prostituieren sich, sie schnüffeln den Tipp-Ex-Verdünner Araz, sie rauchen Haschisch, manche auch Heroin. Aus dem größten Kinderknast Asiens, dem „Children's Room“ in Bombay, brechen sie immer trotz acht Meter hoher Mauern wieder aus.

Die Straßenkinder Bombays sind an den geschulterten Jutesäcken zu erkennen. Jeden Tag sammeln sie Plastik, Glas, Metalle und Altpapier, sortieren die Rohstoffe und verkaufen sie. Ohne die Straßenkinder würde Bombay im Müll ersticken. Trotzdem werden sie verachtet, wie Freiwild gejagt. Sie sind schutzlos. Die größte Gefahr droht den Straßenkindern bei der Ankunft in der überfüllten Metropole, wenn sie mit dem Zug auf dem Victoria Terminal einfahren.

Die Mädchen werden von Zuhältern abgefangen, die sie zur Prostitution zwingen, und von Agenten, die die Mädchen als Haushaltshilfen an reiche Familien verkaufen. Zehntausende Mädchen werden als Sklavinnen verkauft, rechtlos und isoliert. Pimps und Agenten sind Profis. Sie wissen, wie sie die aufgeregten Mädchen beruhigen müssen, wie sie ihr Vertrauen erwerben und das Schutzbedürfnis der Mädchen, die zum ersten Mal in die hektische Stadt kommen, ausnützen können.

Dann sind da noch andere Profis auf dem Bahnsteig. Die Polizisten mit ihren beinlangen Schlagstöcken, die Zivilpolizisten und die Lady Police. Sie stehlen den Neuankömmlingen ihr weniges Geld, schlagen sie und bringen sie in den Kinderknast. Wer den Erwachsenen entkommt, wird in eine Kindergang aufgenommen. Dort lernen sie, in Bahnhöfen und auf der Straße zu überleben. Und sie entwickeln ein soziales Verhalten. Das ist einer der Gründe, warum der 38jährige Pfarrer Xavier, der seit 16 Jahren in Indien mit Straßenkindern arbeitet, eine unendliche Hochachtung für diese Kinder empfindet. Seit drei Jahren leitet der 38jährige Priester das Shelter. Die Kinder nennen ihn liebevoll „Glatze“, weil der 156 Zentimeter kleine, drahtige Geistliche kaum noch Haare auf dem Kopf hat.

Als die Gesellschaft 1988 anläßlich des 100. Todestages des italienischen Arbeiterpriesters Don Bosco beschloß, sich wieder den Ärmsten der Armen zuzuwenden, wurde eine große Mela für die Straßenkinder organisiert. 4.000 kamen, sie konnten zwei Tage kostenlos essen und sorglos im Hof schlafen. Sie tanzten und sangen stundenlang, sahen Hindi-Filme und sprachen über ihr Leben als Straßenkinder. Im Oktober dieses Jahres wird die 100. Mela gefeiert. Neu ist, daß auch drei Ärzte und fünf Krankenschwestern mitfeiern, die die Straßenkinder kostenlos behandeln.

Das Shelter ist 24 Stunden am Tag geöffnet. Es gibt keine Akten über die Kinder und keine verschlossenen Türen. Alle können gehen und kommen, wann sie wollen. Die Priester sind immer ansprechbar. In der Küche des Shelters arbeiten Straßenkinder, der Müllkaufladen wird von dem 18jährigen Antoni organisiert – er ist selbständiger Unternehmer und wohnt seit acht Jahren im Shelter. Andere Jungen sind als Sozialarbeiter ausgebildet. Sie begleiten die Priester und Sharon oder arbeiten im neuen Kontaktzentrum des Shelters am Dadar-Bahnhof. „Unser größtes Problem war, daß die Jungen den ganzen Tag Marihuana geraucht und Karten gespielt haben.“ Sie haben auf Jobs für die Catering-Firmen gewartet, die die großen Hochzeiten der Reichen mit bis zu 2.000 Gästen organisieren. Die Jungen lieben es, als Kellner in schicken Uniformen oder als Abwäscher bei einer Hochzeit dabei zu sein. Sie verdienen bis zu 100 Rupien (vier Mark) am Tag, sie verspeisen die Reste des Festessens, es gibt viel Unterhaltung und Spaß, und vor allem gehören sie – wenn auch nur für einen Tag – zur Gesellschaft, die sie ausgestoßen hat.

Im letzten Jahr hat Father Xavier ein Ausbildungsprogramm für alle Jungen und ein „Ansiedlungsprogramm“ für die Älteren gestartet. Das Ausbildungsprogramm beginnt bei den Kleinsten. Wenn sie in seinem Unterricht Schreiben und Lesen lernen – bekommen sie jeden Tag einen Gutschein für ein Mittagessen. Während vorher nur wenige Kinder bei seinen Unterrichtsstunden auftauchten, nehmen jetzt alle teil. 20 Jungen zwischen 13 und 14 Jahren wurden an Betriebe vermittelt, in denen sie eine zwei bis dreijährige handwerkliche Ausbildung als Kfz-Mechaniker, Elektriker, Maler usw. bekommen. Alle älteren Jungen sind in einer Kurzausbildung von drei bis sechs Monaten, viele machen den Führerschein. Sie können danach als Taxi- oder Lastwagenfahrer arbeiten. Haben sie einen Job, beginnt das „Ansiedlungsprogramm“. Das ist in Bombay, der Stadt mit den höchsten Mieten der Welt, besonders schwer. Schon ein Zimmer im Slum kostet 400 Rupien (16 Mark) im Monat und ist schwer zu finden. Die Miete für elf Monate muß vor dem Einzug gezahlt werden.

Inzwischen sind alle Bewohner von dem neuen Wind, den Father Xavier ins Shelter gebracht hat, begeistert. „Father Xavier, very good“, sagen sie. Ein eigenes Zimmer, selbst im Slum, ist für Straßenkinder ein Traum. Ein eigenes Zimmer und eine feste Arbeit, da denken sie sogar an eine Hochzeit! Nicht um dort zu arbeiten, sondern um selbst zu heiraten!

Auf dem Hof unter den Jungen steht Sunil. In seinem braunen Gesicht leuchten die Zähne ungewohnt weiß. Er hat sich heute zum ersten Mal seit Monaten die Zähne geputzt – und war selbst überrascht von dem Ergebnis. Seine Zahnbürste hat er wieder in den kleinen schwarzen Koffer weggeschlossen, den er von einem anderen Jungen geschenkt bekommen hat. Alle Kinder haben Fächer in Stahlschränken, Koffer oder Holzkisten, in denen sie ihre wenigen Habseligkeiten einschließen. Die eigene Zahnbürste und ein kleiner Koffer, so beginnt das Leben im Shelter. „Hier ist es besser als auf dem Bahnhof“, sagt Sunil. Ein erstes krakeliges A, das er mit Kreide im Unterricht auf die Tafel malt, ist der Start ein ein neues Leben.

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