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Es herrscht Angst wie zu Stalins Zeiten

In Grosny ist es heute schwieriger, eine Flasche Wodka zu kaufen als eine Kalaschnikow. Mit der Islamisierung Tschetscheniens verfolgen die „Kommandanten“ aber rein politische Zwecke  ■ Aus Grosny Boris Schumatsky

Der tschetschenische Grenzposten sieht aus wie ein Trickfilmpirat: Kanonenstiefel, Matrosenhemd, das grüne Barett ist aufs Ohr gerutscht, ein riesiger silberner Dolch baumelt über der Jacke. Der Mann winkt mit dem Kolben seiner Kalaschnikow: „Nicht anhalten, weiterfahren!“ Nach dem Abzug russischer Truppen ist die Durchfahrt in die Tschetschenische Republik frei. Vor zwei Jahren sind die russischen Panzer auf dieser Straße nach Grosny gefahren. „Hier leben Menschen“ steht auf manchen Häusern geschrieben. Je näher man Grosny kommt, desto mehr Gebäude sind zerstört oder ausgebrannt.

In die Hauptstadt Tschetscheniens kehrt das Leben erst langsam zurück. Die Stadtbusse fahren durch eine Geisterlandschaft: ausgebrannte sechsstöckige Plattenbauten, Einfamilienhäuser mit schwarzen Einschußlöchern von Raketen und Panzergeschossen. Nur wenige Passanten bewegen sich zwischen den Ruinen und Trümmerhaufen. Ein zwölfjähriger Junge schleppt eine schwere Panzerfaust. Die Bazooka ist fast größer als er selbst. Der Junge bringt die Waffe auf den Basar, den zentralen Markt von Grosny. Der Basar ist eine Insel des Lebens inmitten der zerstörten Stadt. Aus allen Ecken dröhnt Musik. Hunderte von Marktständen bieten alles an, von Coca-Cola bis Kalaschnikows.

Sulpa hat diesen Markt ganz anders erlebt, als es hier nur Fleisch und Brot zu kaufen gab. „Während der schlimmsten Bombenangriffe standen wir Frauen hier“, erzählt die 50jährige, „wir beteten zu Allah, unseren Jungs zu helfen, uns von diesen Barbaren zu befreien, die schlimmer als die Faschisten sind. Sie warfen ihre Bomben auf unsere Krankenhäuser, auf unsere Kindergärten! Aber wir hoffen auf den neuen Präsidenten.“ Ein Mann fällt Sulpa ins Wort: „Wir werden alles schnell aufbauen, weil wir Erdöl, Gold und Uran haben. Deswegen wird der Westen uns helfen, und selbstverständlich werden uns die ,germanzy‘, die Germanen, helfen, weil wir Tschetschenen ja auch ein arisches Volk sind.“

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen ist die Stimmung in Tschetschenien alles andere als friedlich. Dutzende tschetschenischer Waffenträger überwachen den Trubel auf dem Basar. Ein Kämpfer mit brustlangem Bart der islamischen Mudschaheddin war vor dem Krieg Fleischer, jetzt hat er größere Ambitionen: „Es ist allein Allahs Wille, was wir demnächst machen werden, aber warum sollte ich ausgerechnet jetzt zu meinem alten Beruf zurückkehren? Es ist mir viel wichtiger, eine richtige Ordnung durchzusetzen, zuerst bei uns zu Hause, in Tschetschenien, und dann vielleicht auch woanders.“ Auch nach dem Ende des Krieges wollen viele Kämpfer die Waffen nicht ruhen lassen.

Aus Angst vor den Bewaffneten geht Sareta nicht mehr auf den Basar. Während des Krieges wagte sie nicht einmal, abends Licht zu machen: Die russischen Scharfschützen schossen durch die Fenster, wenn sie Menschen in den Zimmern ausmachen konnten. Auch nach dem Abzug der russischen Truppen fühlt sich die Tschetschenin nicht sicher. Jetzt haben die Widerstandskämpfer begonnen russische Agenten unter den Zivilisten zu suchen. Eines Nachts ist eine Nachbarin von Sareta verschwunden, ihre Wohnung ausgeraubt. Die Nachbarn vermuten, daß sie vom tschetschenischen Sicherheitsdienst festgenommen wurde. Jetzt herrsche Angst, wie zu Zeiten Stalins, sagt Sareta: „Man hat Angst, seine Meinung zu äußern, man fürchtet sich, zu sagen: ,Ich mag eure Macht nicht‘, denn irgend jemand kann dich verpfeifen – dann bist du verloren.“

Der erste tschetschenische Präsident, Dschochar Dudajew, hatte sein Volk während des Krieges aufgerufen, Autos und Vieh zu verkaufen und Waffen zu kaufen. Jetzt aber sind Waffen zum größten Problem der Republik geworden. Mavladi Udugow, früherer tschetschenischer Regierungssprecher, ist einer der populärsten Präsidentschaftskandidaten, weil er den Menschen Sicherheit und „strenge muslimische Ordnung“ verspricht. Der tschetschenische Jurist Magomed ist überzeugt, daß dieses Problem nicht so leicht gelöst werden kann. „Es ist keine Stabilität möglich, solange Waffen ohne jegliche Kontrolle getragen werden“, sagt Magomed. „Man weiß nicht, wer die Waffenträger sind, man weiß nicht, ob sie einer Truppe angehören und auf wessen Befehl sie agieren. Nur wenn alle Waffen konfisziert werden, können rechtliche Institutionen anfangen ihre Funktion zu erfüllen. Dann wird auch die Bevölkerung keine Angst haben.“

Seit Jahrhunderten herrscht in Tschetschenien ein Waffenkult. Doch vor der russischen Invasion war dieser Kult kaum mehr als Teil der tschetschenischen Folklore: Die alten Dolche der Vorfahren in ihren verzierten silbernen Scheiden hingen lediglich an den Wänden. Heute jedoch sind Waffen für die Widerstandsführer die wichtigste Stütze ihrer Macht. Viele Feldkommandanten haben sich als Kandidaten für die kommenden Präsidentschaftswahlen aufstellen lassen. Sie alle plädieren für die Errichtung eines islamischen Staates. Von den wichtigsten Kandidaten tritt allein der ehemalige Sowjetoffizier Aslan Maskhadow für einen weltlichen Rechtsstaat ein. Es bleibt aber fraglich, ob er sich gegen die Machtgier der Feldkommandanten durchsetzen kann, meint Magomed: „Die Bojewiki werden alles tun, nur um die Wiederherstellung der Rechtsordnung und der Stabilität in der Republik zu verhindern. Und wenn Aslan Maskhadow gegen ihre Interessen verstoßen sollte, nun, wir wissen ja nur zu gut, wie man einen politischen Streit in der Sprache der Waffen führt.“

Die tschetschenische Gesellschaft ist gespalten. Die gebildete Schicht will eine wirtschaftliche und nicht zuletzt eine kulturelle Integration in die Russische Föderation: Russisch ist Schriftsprache in Tschetschenien, in den Hochschulen von Grosny wird nach wie vor auf russisch unterrichtet. Aber Leute, die für sich keine Perspektive in einem fundamentalistischen autoritären Staat sehen, werden als Verräter und Kollaborateure verleumdet. Vor dem Krieg trugen gebildete Tschetschenen Anzüge und Krawatten. Heute wagen sie kaum, so gekleidet auf die Straße zu gehen. „Wer eine Krawatte trägt, wird allein deswegen als Feind angesehen“, erzählt Alvi. „Ich mache ja diesen Leuten keine Vorwürfe, daß sie ihre Camouflage-Uniformen tragen. Ständig trifft man auf der Straße junge Männer in Uniform und mit einer MP über der Schulter. Es ist schon so etwas wie unsere Volkstracht geworden.“

Alvi ist Untersuchungsrichter. Vor zwei Jahren wurde er als bester Untersuchungsrichter der Republik ausgezeichnet. Heute sieht Alvi keine Möglichkeit, seinen Beruf weiterhin auszuüben. Präsident Jandarbijew, der auch bei den kommenden Wahlen kandidiert, hat vor kurzem ein neues Strafgesetzbuch erlassen. Die meisten Artikel haben Alvi zutiefst schockiert: Abschneiden der rechten Hand, Abschneiden des linken Fußes, Todesstrafe durch Steinigung oder durch Abschlagen des Kopfes. „Ich stelle mir vor, daß mein Angeklagter zum Abschneiden des Fußes oder der Hand verurteilt wird. Mag der Angeklagte auch eines Verbrechens schuldig sein, trotzdem würde ich mich ihm gegenüber schuldig fühlen. Die Straftaten zu untersuchen ist das einzige, was ich gut kann, aber trotzdem werde ich kündigen.“

Bereits am Anfang der Unabhängigkeitsbewegung hatte die tschetschenische Führung auf die islamische Karte gesetzt. Nach siebzig Jahren Sowjetmacht befolgte aber nur eine Minderheit der Bevölkerung, hauptsächlich die ältere Generation, die Vorschriften des Korans. Die meisten Tschetschenen waren als „normale“ Sowjetmenschen sozialisiert. Wie viele tschetschenische Feldkommandanten war auch Dudajew, der erste Präsident der Republik, Sowjetoffizier. Sie haben in Afghanistan gegen die muslimischen Mudschaheddin gekämpft. Der amtierende Präsident Jandarbijew hat auch eine typisch sowjetische Laufbahn: Als junger Mann hatte er Ambitionen, Dichter zu werden. Er absolvierte das Moskauer Gorki-Institut für Literatur, wurde aber nicht Poet, sondern Funktionär des Schriftstellerverbandes der „Sozialistischen Sowjetrepublik Tschetscheno-Inguschetien“. Für diese Politiker ist Islamisierung ein Instrument, ein Mittel zum Zweck.

„Wir sind alle Muslime“, behaupten einstimmig die Schüler der Stadtschule Nr.41. Das Gebäude ist von den Bombenangriffen verschont geblieben. Während der Pause gehen die Oberschüler kurz nach draußen. „Erst nach dem Krieg sind viele Leute religiös geworden“, erzählen die Schüler. „Man kann aber noch nicht sagen, daß Tschetschenien ein muslimischer Staat ist, denn noch nicht alle beten zu Allah, eigentlich mehr als die Hälfte verrichtet Nams, das Tagesgebet, gar nicht.“ Was werden die Schüler aber tun, wenn die islamischen Gesetze per Erlaß eingeführt werden? Liana und Emila nennen sich Musliminnen, aber allein der Gedanke an die strengen islamischen Sitten regt die Mädchen so auf, daß sie beide gleichzeitig zu reden beginnen: „Die Bojewiki sagen, wir sollen Kopftücher tragen, wir sollen lange Röcke tragen. Ich persönlich kann mir gar nicht vorstellen, in einem langen Rock und mit einem Schleier rumzulaufen“, sagt Liana. Ihre Freundin pflichtet ihr bei: „Ich auch nicht! Uns gefallen ganz kurze Röcke und Jeans.“

Für die meisten Tschetschenen ist der Islam nur Teil des nationalen Brauchtums. Die Tschetscheninnen haben nie einen Schleier getragen, und die meisten wollen gar nicht erst damit anfangen. Die neuen strengen Sittenregeln der muslimischen Fundamentalisten werden kaum befolgt, solange die „Bojewiki“ sie nicht mit Waffengewalt durchsetzen. Alkohol haben sie strengstens verboten. Es ist jetzt schwieriger, eine Flasche Wodka in Grosny zu kaufen als eine Kalaschnikow.

Der zentrale Platz von Grosny hat am meisten unter den Bombenangriffen gelitten. Ruinen und Trümmerhaufen umgeben eine riesige öde Fläche, wo früher der Präsidentenpalast stand. Auf diesem Platz findet ein tschetschenisches „Sikr“-Ritual statt. Zwei Dutzend Frauen in langen weißen Umhängen, weißen Schleiern und mit grünen islamischen Stirnbändern stehen im Kreis. Sie singen, bewegen sich nach links und nach rechts, trampeln mit den Füßen und klatschen in die Hände. Ein Reiter in schwarzer „Brka“, einem traditionellen Pelzüberwurf, dirigiert das Sikr. „Allah akbar!“ skandiert ein alter Mann und schwenkt einen langen blanken Dolch.

Sulpa, die Rußland auf dem Basar verfluchtet hatte, ist auch dabei. Frauen beschwören Allah, Freiheit und Wohlstand zu schenken, und sie rühmen die Helden des letzten Krieges: Dudajew, Jandarbijew, Maskhadow, Udugow. Vor zwei Jahren haben die russischen Truppen diesen Platz besetzt. Sulpa skandiert ein mittelalterliches Lied über die tschetschenischen Recken, widmet es aber den Präsidentschaftskandidaten und Feldkommandanten, die für das Volk die Freiheit erkämpft hätten. Ein ekstatischer Zustand macht sich breit. Es wird leicht, zu glauben, daß die modernen Recken mit Allahs Hilfe Wohlstand und ein menschenwürdiges Leben herbeizaubern werden.

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