: Lauwarme Kälte als instrumentelles Klirren
■ Achim Freyer inszeniert Helmut Lachenmanns Auftragswerk für die Hamburg Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern unter Vermeidung platter Imitation
Wie groß das Interesse ist am letzten Auftragswerk der Ära Albrecht/Ruzicka, das kommenden Sonntag Premiere hat, zeigte sich schon letzten Sonntag, als Komponist, Regisseur und Dirigent sich und die Oper in der vollbesetzten Opera stabile erklärten.
Dabei wurde klar, daß Helmut Lachenmann die schwere Traurigkeit von Andersens Geschichte Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, die er nach zwanzigjähriger Beschäftigung mit dem Stoff nun endlich komponiert hat, zwar wahrnimmt, und daß er sich sogar mit dem armen Mädchen identifziert, das seine Schwefelhölzer am Weihnachtsabend nicht verkaufen kann und das sich darum ängstlich abseits an einer dunklen Wand hält, um dort von Schwefelholz zu Schwefelholz im Lichte seiner Träume zu erfrieren. „Sie krepiert halt an der Kälte der Gesellschaft“, meinte der Komponist, „wobei die Kälte unserer Gesellschaft durchaus das Lauwarme ist.“
Aber weder Mädchen noch Wand, das wurde auch deutlich, werden zu sehen sein in Achim Freyers Inszenierung. Das Werk definiert Oper als Gattung und Institution neu. Und so ist es Regisseur und Komponist weder um Handlung noch um Bilder zu tun. Imitation sei Kitsch und Lüge, sagten sie, entmündige den Zuschauer. Also werden sie kein tragisches Märchen erzählen, sondern die Musik wird sich in „paralleler Aktion“ analog zur Geschichte halten, diese „abtasten“ und „mit Klang versehen“ (Lachenmann). Was einmal Handlung war, wird – in einer Art Naturalismus des Materials – verwandelt in Musik, wie Lachenmann sie versteht, also in Geräusche, „Ereignisse“. Die Kälte der Winternacht erscheint in instrumentellem Klirren, die Wärme des Lebenswillens in Reibung der Bögen an den Saiten.
Statt Identifikation ist Sicheinlassen gefragt, statt Genuß „Erlebnisarbeit“. Deren Voraussetzung und Erkennungszeichen wäre die totale Stille. Freyer: „Rascheln von Bonbonpapier oder Türschlagen wäre das Ende.“ Lachenmann: „Aber wenn er dann draußen wäre, könnt's weitergehen.“
Die Philharmoniker, so Dirigent Lothar Zagrosek, arbeiteten bei den Proben „zum großen Teil“ voller Neugier mit. Der Rest? Der wolle „mit unerbittlicher Freundlichkeit“ überzeugt sein. Ob man denn zweimal hineingehen müsse, um zu verstehen? Der Komponist schlug vor, überhaupt jedem, der käme, zur Belohnung eine zweite Karte zu schenken. Wie werden die Premierenbesucher reagieren? Lachenmann: „Ich rechne mit allem.“
Stefan Siegert
Premiere: So, 26. Januar, 19 Uhr, Hamburg Oper
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