piwik no script img

Wahrheit und Bluff

■ Zerfällt die russische Armee wirklich?

Moskau ist für Katastrophen-, Krisen- und Bedrohungsszenarien aller Art noch immer eine schier unerschöpfliche Quelle. Verteidigungsminister Igor Rodionows unverblümter Bericht über den Zustand der russischen Armee und seine Warnung, das strategische Nuklearwaffenpotential gerate zunehmend außer Kontrolle, klingt in der Tat alarmierend. Aber enthielt die Enthüllung eigentlich mehr, als man ohnehin schon wissen konnte?

Rußlands Armee befindet sich nach Darstellung der Verteidigungslobby seit Jahren am Rande des Kollapses. Was sie im Kampfeinsatz bot, konnte selbst den wohlwollendsten Betrachter nicht vom Gegenteil überzeugen. Doch Rodionows Offensive an der Propagandafront ist keine gutgemeinte Warnung vor Konsequenzen, falls die Mängel nicht behoben werden. Nein, seine Rede zeigt in erster Linie, daß es auch dem General in Zivil nicht gelungen ist, den Forderungen des hypertrophen Armeestaats Einhalt zu gebieten.

Den Kürzungen und einschneidenden Reformen, wie sie im Umkreis des Präsidenten verlangt werden, begegnete Rodionow daher nach der Devise: Angriff ist die beste Verteidigung. Dieser Waffengang heiligt alle Mittel, mögen sie auch noch so perfide sein. Nicht zufällig lancierte Rodionow über eine Zeitung die Behauptung: Der Westen befürchte, daß die Regierung die Kontrolle über die Atomstreitmacht verlieren könnte. Träfe dieses Szenario ein, würde der Westen die nuklearen Objekte auf dem russischen Staatsgebiet – aus Sicherheitsgründen – unter seine Kontrolle nehmen. Fazit: Einmal im Lande, immer im Lande, selbst wenn nicht mit imperialistischen Absichten. Ein ähnliches Szenario hatte kürzlich die Prawda veröffentlicht und als Quelle den BND in Pullach genannt.

Die Absicht ist durchsichtig. Vor dem Hintergrund der Nato-Osterweiterung, die von der gesamten politischen Elite Rußlands abgelehnt wird, will der Minister die Pfründen seiner Untergebenen und die Stellung der Armee retten. Um das zu erreichen, gilt es Stimmung zu machen und die latente Angst vor Überfremdung zu schüren. Noch reagieren die Russen relativ gelassen. Ob es dabei bleibt, kann man nicht wissen. Dafür zu sorgen, ist vornehmlich die Aufgabe des Westens. Augenmaß ist verlangt. Klaus-Helge Donath

Bericht Seite 8

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen