■ Berlinale-Anthropologie: Prähistorie (Das System Pathé Baby)
Der Autor als Kind Foto: privat
Filmfestspiele, erkläre ich Leroi, Amerikaner in Berlin, während wir durch die vorfestspielmäßig aufgekratzte Innenstadt (West) schlendern – „Vorlust“ nennt es Professor Freud –, Filmfestspiele haben in jedem ihrer Besucher eine eigene Vorgeschichte, die aufwacht, wenn man nur richtig hinguckt. Das Wort ist ja vielversprechend genug, Filmfestspiele.
Was mich betrifft, sage ich – Leroi grübelt unschlüssig, wo wir ein Schlückchen nehmen könnten –, so kommt mir ein Foto zuhilfe. Es zeigt das Kind, winterlich in Kapuzenmantel und Strickmütze gehüllt, das schon tüchtig stehen kann, aber vermutlich kaum reden. Es schaut erstaunt in die Welt, mit altersgemäßer Fassungslosigkeit. Wie klein es noch ist, zeigt sich an der Lederbox, die vor ihm auf dem Gras steht und deren Handgriff das Kind in seinem Patschhändchen hält. Unter Lerois Führung haben wir das Rost in der Knesebeckstraße angesteuert, denn die Paris Bar wollen wir meiden.
Der Lederkasten, den das Kind eifrig herumzutragen versucht, dieser Lederkasten dient der Aufbewahrung von nichts weniger als einer Filmkamera, ja. System Pathé Baby, Format 19 1/2 Millimeter (?), mit der Perforation in der Mitte statt an den Rändern des Filmstreifens. Ich bilde mir ein, in meiner Hand sei noch ein Gefühl von der Schwere des Geräts.
Ich bin damit gefilmt worden. Und lange bevor ich ins Kino ging, gab es in dem Haus am Waldrand, wohin es die Familie 1945 verschlagen hatte (Spangenberg, Regierungsbezirk Kassel) Filmabende, bei denen die Mutter das Familienmaterial auf ein weißes Laken projizierte. Das Abspielgerät, schwarz glänzend mit vernickelter Handkurbel, besaß die Schönheit eines antiken Sportcoupés („fehlten nur die Weißwandreifen“). Freilich, es „transportierte“ schlecht, der Filmstreifen blieb immer wieder stecken, die Mutter bekam einen Wutanfall.
Und dann brannte wieder eine der Birnen durch, die das Licht für die Projektion abgaben. Freilich, man konnte welche nachkaufen in einem Geschäft namens Scheyhing, am Ständeplatz in Kassel; wie auch das Filmmaterial für das System Pathé Baby noch produziert wurde, bis in die frühen Fünfziger hinein, denke ich. Leroi müßte jetzt eigentlich seine Kino-Prähistorie auspacken, der heiße Bretterschuppen in Oxford, Mississippi; aber er starrt nur gedankenvoll in seinen Martini, während ich an meinem Southern Comfort nippe.
Weil der Apparat so oft ausfiel, die Projektion zusammenbrach, Mutter in Wut geriet, ist die Erinnerung an diese prähistorischen Heimkinoabende der späten Vierziger, frühen Fünfziger alles andere als goldüberglänzt.
Auch hätte das Kind von dem Gezeigten kaum besonders berührt werden müssen. Die Filme stammten weder von Mutter noch von Vater; sie waren von Mutters Familie auf uns gekommen, Max Missmann, Fotograf in Berlin, hatte sich Anfang der Zwanziger das Schmalfilmsystem Pathé Baby angeschafft und damit seine Familie aufgenommen: Fahrten auf Berliner Seen, ein Ausflug nach Binz/ Rügen, eine liebevolle Kompilation über die jüngere Tochter Monika, launig betitelt „Mone, die Kanone“.
Was das Kind, was ich in dieser persönlichen Prähistorie des Kinos (meines Verhältnisses zum Kino) mitbekam, war eigentlich eine Totenbeschwörung; viel lag der Mutter daran, den toten Vater, die tote Schwester in dem Haus am Waldrand als Filmbild noch einmal zu sehen, deshalb die Leidenschaft und die Wut, wenn der Apparat der Beschwörung versagte. In vivo sind diese Personen dem Kind unbekannt geblieben.
Das kommt davon, wenn einer, statt mitzureden, zuhört wie ein Psychoanalytiker! Statt vorlustüberglänzter Kindheitserinnerungen Bilder von Tod, Wut, Nachkrieg. Das Kino, sagt André Bazin, ist eine Mumifizierungstechnik; das Kino, sagt Siegfried Kracauer, errettet die körperliche Wirklichkeit. Das System Pathé Baby aus dem Besitz von Max Missmann habe ich errettet, das Aufnahme- wie das Abspielgerät, die Familienfilme einschließlich „Mone, die Kanone“. Ein Holzkasten, recht ähnlich der Lederbox auf dem Kinderfoto, nur größer und weiß lackiert, verwahrt sie friedlich in der Kammer. Michael Rutschky
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen