Lebende Zeitbomben

■ Neonazianschläge: Die Kettenhunde sind los

Polizisten, nun habt ihr die Quittung! Jahrelang habt ihr die neonazistische Gefahr ignoriert und verharmlost. Also, hört auf zu jammern, nur weil es diesmal zwei Kollegen und keinen Linken oder Ausländer getroffen hat.

Stopp. Klammheimliche Freude ist ebensowenig angebracht wie politische Kurzschlüsse, die die Schüsse als logisches Resultat schwarz-brauner Allianzen im etablierten politischen Raum interpretieren. Auch als Beleg für die aktuelle neonazistische Offensive taugen die Mordanschläge nur bedingt.

Vielmehr deutet vieles darauf hin, daß mit Kai Diesner ein neuer „Krieger“-Typus auf den Plan getreten ist. Ohne allzu großes Kosten-Nutzen-Kalkül nimmt er seinen Kampf gegen alles auf, was seinem Vernichtungswillen im Wege steht. Natürlich kann darüber spekuliert werden, ob dies eine Besonderheit der Neonaziszene ist und wie viele dieser rechten Zeitbomben unter uns leben. Es sind nicht wenige. Aber längst nicht alle „Krieger“ sind Neonazis. Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß schon bald ein „Söldner“ aus einem konkurrierenden, zum Beispiel balkankriegserfahrenen Männerbund die Schlagzeilen erobert.

Gleichzeitig gilt: Der 24jährige Diesner ist kein klassischer Einzeltäter. Über Jahre wurde er in neonazistischen Organisationen geschult. Die Notwendigkeit des militanten „Widerstands“ der „Direkten Aktion“ und, wenn nötig, die physische Vernichtung des Gegners stehen dort außer Frage. Die Jagd auf Vietnamesen und Rumänen, Überfälle auf besetzte Häuser oder die Belagerung eines Flüchtlingswohnheims gehören in diesem Milieu zum Alltag.

Wenn bei der nun anstehenden Suche nach Schuldigen zögernde Innenpolitiker gegeißelt werden, weil sie zu spät und zu inkonsequent das neonazistische Netzwerk zerschlagen hätten, sollte allerdings auch bedacht werden: Gruppen wie die inzwischen aufgelöste „Nationale Alternative“ haben neben der Anstiftung zu Gewaltaktionen auch einen Rest an Kontrolle über ihre Anhänger ausgeübt, die scharfen Kettenhunde an der Leine gehalten. Diese streifen nun durchs Land, unerreichbar für Sozialarbeiter, Therapeuten, die Antifa und den Verfassungsschutz. Falls überhaupt, treffen sie sich in Kleinstgruppen, in denen auch der letzte Rest an humaner Orientierung verlorengegangen ist. Manches Mal beißen sie zu. Eberhard Seidel-Pielen