: Dem Unfall in der Wiederaufarbeitungsanlage in der japanischen Atomstadt Tokaimura folgte eine ganze Reihe von Skandalen: Die Feuerwehr wurde erst 40 Minuten nach dem Brand alarmiert, die Evakuierung der Arbeiter erfolgte erst nach den Lösc
Dem Unfall in der Wiederaufarbeitungsanlage in der japanischen Atomstadt Tokaimura folgte eine ganze Reihe von Skandalen: Die Feuerwehr wurde erst 40 Minuten nach dem Brand alarmiert, die Evakuierung der Arbeiter erfolgte erst nach den Löscharbeiten, und das Ausmaß der Verseuchung wurde bewußt verschwiegen.
Zeit gewinnen, bis die Werte normal sind
Aus verständlichen Gründen wollte der 30jährige Atomingenieur, in der japanischen Atomstadt Tokaimura zuständig für die Entwicklung von Wiederaufarbeitungstechnologien für Plutoniumbrennstoff, seine abendlichen Einkäufe ungestört erledigen. Schließlich glaubte der Fachmann, daß sich die Informationspolitik seines Arbeitgebers, der halbstaatlichen Betreibergesellschaft für Schnellbrüter und Wiederaufarbeitungsanlagen (WAA) Donen, seit geraumer Zeit verbessert habe. Wozu also die vielen Fragen? Da fiel dem Mann seine Frau ins Wort.
„Ich habe am Dienstag ab elf Uhr den ganzen Tag draußen im Park mit unserem einjährigen Kind gespielt und von dem Unfall erst am Abend erfahren. Wer hätte mich gewarnt, wer hätte mein Kind evakuiert, wenn wir es mit einem Unfall wie in Tschernobyl zu tun gehabt hätten?“ fragte die 29jährige Einwohnerin Tokaimuras, einer Stadt 150 Kilometer nördlich von Tokio. Und die Frau war nicht die einzige, die sich nach dem „schweren Unfall“ (Donen) in Japans bislang einziger Wiederaufarbeitungsanlage eine rechtzeitige Warnung gewünscht hätte. „Obwohl Radioaktivität freigesetzt und Menschen verstrahlt wurden, kam die Nachricht bei mir nicht an. Das zeigt ein großes Problem“, gestand Seiroku Kajiyama, einer der einflußreichsten Politiker des Landes, mit verblüffender Offenheit.
Kein Wunder also, wenn die Tokioter Politik am Mittwoch kopfstand. Niemand wollte sich wie nach dem Erdbeben in Kobe den Ruf der Tatenlosigkeit einhandeln. Premier Ryutaro Hashimoto verurteilte im Parlament die Informationspolitik der Atombetreiber. Wissenschaftsminister Riichiro Shikaoka forderte die Verantwortlichen auf, endlich Lehren aus vergangenen Unfällen zu ziehen.
Grund für die Aufregung gab es genug. „Es handelt sich um den schwersten uns bekannten Fall radioaktiver Verseuchung von Menschen in Japan“, sagte Ideyuki Ban, Generalsekretär des Bürgerinformationszentrums für Atomenergie (CNIC), dem Think-tank der japanischen Antiatombewegung. Und meinte damit zweifellos: nach dem Atombombenabwurf auf Nagasaki.
Der halbstaatliche Fernsehsender erhöhte am Mittwoch die Zahl der Strahlungsopfer auf 35. Zwar bezeichnete Donen die Verseuchung als „geringfügig“, doch blieb offen, ob die Betroffenen auch Opfer von Alphastrahlung aus Plutoniumüberresten geworden waren. In diesem Fall können sehr kleine Mengen zu schweren Gesundheitsschäden führen. Alle Betroffenen arbeiteten zur Zeit des Unfalls in der Nähe der Unfallstelle und wurden nicht rechtzeitig evakuiert.
In Tokaimura blieb das Ereignis vielen unverständlich: „Wenn du verseucht bist, bekommst du Leukämie und stirbst, oder dir fallen zumindest die Haare aus“, erklärte der 14jährige Schuljunge Takano Ryo in Tokaimura seinen Klassenkameraden. „Was ist wirklich passiert?“ wollten die wissen. „Es gab ein Feuer und eine Explosion. Aber kümmert euch nicht darum. Wir Kinder können sowieso nichts ausrichten“, sagte Takano. So ging es offenbar den meisten Bürgern in der Nähe der WAA. Über die Folge von Skandalen, die den Atomunfall begleiteten, wollten sie am liebsten nichts wissen. Viele waren froh, noch einmal glimpflich davongekommen zu sein.
Ein Ausnahme machte Kazufumi Nagai, 45, seit einem Vierteljahrhundert Feuerwehrmann in Tokaimura. „In meiner 25jährigen Arbeitszeit war das mein schwerster Unfall. Ich wundere mich, weshalb die Betreiber über eine halbe Stunde brauchten, um uns den Brand in der Anlage zu melden“, bemerkte Nagai.
Das nämlich war der erste Skandal: Die Donen-Betreiber umgingen die Feuerwehr, um Zeit zu gewinnen. Der Brand in der Bitumenverfestigungsanlage für flüssige Atomabfälle wurde zuerst um 10.08 Uhr am Dienstag festgestellt. Als die Verantwortlichen vierzig Minuten später die Feuerwehr anriefen, meldeten sie bereits das Ende des Feuers. So kam eine öffentliche Alarmstimmung gar nicht erst auf.
Der zweite Skandal betraf die Arbeiter in der Anlage. Ihre Evakuierung fand erst um 11.08 Uhr statt, zuvor gab es noch Feuerpräventionsarbeiten zu erledigen. Zwei Arbeiter, die auf das Dach der Anlage geflüchtet waren, wurden erst um 17 Uhr nachmittags mit einem Kran in Sicherheit gebracht. „Wir brauchten die Zeit, um über die Art der Rettungsmaßnahme zu entscheiden“, sagte später ein Donen-Mitarbeiter.
Der dritte Skandal war eine schnell zurückgenommene Lüge: Noch am Dienstag mittag leugnete Donen auf einer nationalen Pressekonferenz jegliche radioaktive Verseuchung in Tokaimura. Dabei war der erste Alarm um 10.34 Uhr losgegangen. Doch für die Verantwortlichen galt es, die Verseuchung so lange zu verschweigen, wie sie nicht verniedlicht werden konnte. Als man auf der zweiten Pressekonferenz am frühen Mittwoch morgen schließlich die Freisetzung von Radioaktivität einräumte, ließ sich gleich hinzufügen, daß die Strahlungswerte rund um das Gelände inzwischen Normalwerte erlangt hätten.
Ein Widerspruch blieb bestehen: Warum schworen die Atombetreiber, schnell wieder alle durch die Gewalt der Explosion gesprengten Türen und Fenster ihrer Anlage zu schließen, um weitere Verseuchungen zu vermeiden, wenn alle radioaktiven Werte längst normal waren? Doch wozu die vielen Fragen? „Es hat keinerlei Gefahr für die Bürger bestanden, deshalb haben wir mit der Unfallmeldung bis zum nächsten Tag gewartet“, erklärte der zuständige Provinzgouverneur Masaru Hashimoto. Georg Blume, Tokaimura
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen