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Nach der Bewußtseinserosion

■ Walter Kempowski gewährt in einer Lesung erstmals Einblick in den zweiten Teil seines Mammut-Geschichtswerks Echolot über das Kriegsende

Mit seinen „bürgerlichen Romanen“Tadellöser & Wolff, Uns geht's ja noch gold, Ein Kapitel für sich und Aus großer Zeit hat der Schriftsteller Walter Kempowski (geboren 1929) nicht nur eine überaus erfolgreiche Familiensaga geschrieben, sondern zudem eine „deutsche Chronik“dieses Jahrhunderts verfaßt.

Seine Stärke liege eher im Finden als im Erfinden, sagt Kempowski von sich. Der Finder Kempowski hat über die Jahre ein riesiges zeitgeschichtliches Archiv angelegt, das aufgrund seiner Fülle und Vielfalt von Erinnerungen, Biographien und Fotos zugleich ein unerschöpfliches Erinnerungsdepot ist: „Die bloße Bewahrung vor der Vernichtung gibt der Sammlung schon einen Sinn“, erläutert Kempowski.

Im Janur 1983 notierte Walter Kempowski in sein Tagebuch: „Inzwischen hat sich ganz von selbst ein Projekt ergeben, in das ein großer Teil der zeitgenössischen Berichte eingehen könnte: Das ,Echolot', ein kollektives Tagebuch von 1943-1949. Damit werde ich mich wahrscheinlich den Rest meiner Tage beschäftigen.“

1993 erschienen die ersten vier Bände des Echolots I. Darin entwickelt Kempowski aus den von ihm gesammelten Lebenszeugnissen dieses Jahrhundert einen aufregenden Dialog von Texten – seine Montage umfaßt Äußerungen von Geistesgrößen und Normalbürgern, von Politikern und Soldaten, sie bietet Briefe und Tagebuchnotizen, offizielle Verlautbarungen und geheime Mitteilungen.

Einziges Ordnungsprinzip ist die Zeit. Das Echolot I umspannt zwei entscheidende Monate deutscher Geschichte zwischen dem 18. Januar und dem 28. Februar 1943: Markiert doch die Niederlage von Stalingrad den Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs, kündigt sich mit ihr die „Götterdämmerung“des „Dritten Reiches“und eine Bewußtseinserosion der Deutschen an.

Kempowski arrangiert „sein“Material so geschickt und souverän, daß es beredt wird. Aus der Vielzahl der Lebensäußerungen ergibt sich ein ungemein dichtes Erinnerungsgewebe, aber auch ein ungeheuer vielschichtiges Bewußtseinsgeflecht. Als Autor verschwindet Kempowski dabei; er zieht sich zurück auf die Objektivität der Quellen, als mache er sich Walter Benjamins Credo im Passagen-Werk zu eigen, die Methode seiner Arbeit sei die literarische Montage, er habe nichts zu sagen, nur zu zeigen.

Was aber wird Walter Kempowski im Echolot II zeigen, das für 1998 angekündigt ist? Wie wird diese Fuga furiosa klingen? Im Rahmen einer Lesung in der Freien Akademie der Künste gibt Kempowski erstmals einen Ausblick auf das Echolot '45.

Fest steht jedenfalls: Es umfaßt den Zeitraum vom 12. Januar bis zum 30. April 1945. Der Anspruch des Archivars und Arrangeurs: „Ich will denen eine Bühne bieten, denen man nicht zugehört hat, um im Banalsten das Zentrale aufzu-finden.“

Frauke Hamann

Lesung von Walter Kempowski aus „Echolot '45. Fuga furiosa“: Do, 20. März, 19.30 Uhr, Freie Akademie der Künste, Klosterwall 23

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