■ Kommentar: Soziales Brennglas
Berlin wirkt wie ein Brennglas. Es bündelt die einfallenden Strahlen zu einem Energie-Impuls, dessen Kraft den sozialen Konsens der Nachkriegszeit durchlöchert. Denn verschiedene Entwicklungen überlagern und verstärken sich gegenseitig. Ein eindeutiges Symptom ist jetzt der Austritt der Baufirmen aus dem Tarifverband. Sie reagieren damit auf die gnadenlose Konkurrenz der Baukonzerne, die die milliardenteuren Jahrhundertbaustellen mit Tausenden von Billigarbeitern unter sich aufteilen. Währenddessen bricht die alte Industrie und damit auch die soziale Absicherung der Beschäftigten bis auf kümmerliche Reste zusammen. Nicht nur die Arbeit, auch die Sicherheiten alten Typs verschwinden in Berlin und Ostdeutschland so schnell wie nirgendwo anders. Aus der Asche aber wächst kein Phoenix – jedenfalls nicht für die Rechte der Lohnabhängigen. Die neuen Existenzgründer nämlich pfeifen auf Tarifverträge. Entweder können sie sich diesen Luxus nicht leisten, oder aber die modernen Individualisten handeln als Angestellte ihr Einkommen lieber selbst aus. Immer mehr Jobber werden in Zukunft frei von jeglichen Garantien ihre Ware Arbeitskraft verkaufen. Den Gewerkschaften droht die Bedeutungslosigkeit, wenn sie nicht neue Strategien entwickeln – wie etwa der Vorschlag von IG-Metall-Chef Klaus Zwickel, die Flächentarifverträge stärker auf die notleidenden Regionen zuzuschneiden. Hannes Koch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen