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Viel Post, wenig Moderne

Vor zehn Jahren feierte die Internationale Bauausstellung die Wiederbelebung der Gründerzeitstadt. Anregend sind die Ideen bis heute. Letzter Teil der Serie „Wie gewohnt?“  ■ Von H. Wolfgang Hoffmann

3. März 1997. Diskussion über die Stadtlandschaften der Moderne im Berliner Stadtforum. Fritz Neumeyer, Chefdenker des Planwerks West, schlägt zwischen Philharmonie und Nationalgalerie einen gräsernen Teppich vor, der die Gebäude als das bloßstellt, was sie seiner Meinung nach sind: Dinosaurier der Architekturgeschichte.

Sein für den Ostteil verantwortlicher Kollege, Dieter Hoffmann- Axthelm, fühlt sich von der Leere bedrängt, möchte die Freiräume bebauen, die historische Stadt über die moderne legen. Zwei gegensätzliche Strategien – die gleiche Ratlosigkeit.

Die Leere ist zuerst eine Leere im Kopf. Sicher, Hansaviertel, Leninplatz, Gropiusstadt, Fischerinsel, Kulturforum und so weiter, und so weiter füllen einen beachtlichen Teil der Stadt aus. Wahrgenommen werden sie trotzdem kaum. Wohnungsgesellschaften verstecken Fassaden hinter postmodernen Dekors oder bebauen Freiflächen mit beziehungslosen Blockadaptionen. Zum Beispiel an der Kreuzberger Alexandrinenstraße. Ein sensibler Umgang findet nicht statt. Die Stadtlandschaft der Moderne – ein blinder Fleck auf dem Stadtplan.

Kaum ein halbes Jahrhundert ist es her, da traf das gleiche Unverständnis die Gründerzeitstadt. Damals förderte der Staat nicht etwa die Instandhaltung der Fassaden. Im Gegenteil: Er belohnte das Abschlagen von Stuck. Über Jahrzehnte als „Mietskaserne“ diffamiert, schienen die Bauten untrennbar mit allen politischen Verfehlungen und sozialen Mißständen ihrer Entstehungszeit verbunden. Dermaßen kulturell beschädigt, blieb als einziger Ausweg: abreißen und neu bauen. Bauliche Mängel waren für die Kahlschlagsanierung allenfalls Alibi.

Im Frühjahr 1987 feierte man die Wiederentdeckung der Gründerzeitstadt. Das Ausstellungsjahr der Internationalen Bauausstellung (IBA) war publizistischer Höhepunkt eines städtebaulichen Kraftakts: In seinem Verlauf wurden in über 160 Projekten mehr als 4.000 Wohnungen samt Folgeeinrichtungen neu gebaut, ebenso viele instand gesetzt, zahllose leerstehende Fabriken durch Kultur- und Freizeiteinrichtungen in Betrieb genommen, Straßen repariert, Höfe begrünt, Parks neu angelegt, kurz: die „Innenstadt als Wohnort“ wiedergewonnen.

Heute, zehn Jahre danach, mag die Faszination der Bauten und des beeindruckenden Bauvolumens gewichen sein. Und doch: Die Frage, wie es der IBA gelang, ein entwertetes Stück Stadt nicht nur zu rehabilitieren und seine Überbleibsel wieder zum Leben zu erwecken, sondern sie auch zum Ausgangspunkt zukünftiger Entwicklung zu machen, könnte aktueller kaum sein. Die Voraussetzung und zugleich die radikalste Neuerung war, nicht mehr von einem Ideal auszugehen, das der Wirklichkeit enthoben ist: Nun ging man von der Stadt aus, wie sie ist. Bereits im Vorfeld der IBA wurden ihre Überreste mit unzähligen Publikationen dem Vergessen entrissen, die Vergangenheit der Stadt rekonstruiert, die Geschichte fast jedes Hinterhofs nacherzählt.

Schon Mitte der siebziger Jahre führte Wolf Jobst Siedlers Buch „Die gemordete Stadt“ vor Augen, welchen Verlust die Liquidierung von Gaslaternen, Handwerkerhöfen und öffentlichen Bedürfnisanstalten bedeutete. Den Kolonialwarenladen als Secondhandshop wieder in Betrieb zu nehmen war danach nur noch ein kleiner Schritt.

Das Interesse der Bürger an ihrer Stadt stieg ungemein. Daß selbst die verfallenste Remise ihren Wert hatte, wurde Leuten klar, die selbst nie nach Kreuzberg kamen. Jene, die dort ausgeharrt hatten, wußten längst, daß sie ein Stück Freiheit bedeutete.

Mit der IBA versöhnte sich die Stadt nicht nur mit ihrer Vergangenheit, sondern auch mit ihrer sozialen Wirklichkeit. Türken, Sozialhilfeempfänger und Jugendliche, die einfach anders leben wollten, wurden nicht länger als Randgruppen ausgegrenzt. Statt sie als Teil des Problems zu sehen, wurden sie zu einem Teil der Lösung. Die IBA half den Bewohnern, jene Energie, mit der sie sich zuvor der Abrißbirne entgegengestellt hatten, nun in die Instandsetzung ihrer Häuser umzulenken. Sie unterstützte Selbsthilfegruppen und beriet jene, die soviel Eigeninitiative nicht mitbrachten.

Die Nutzer, denen das Gesetz bis heute keine mündige Rolle zubilligt, wurden zu gleichberechtigten Mitspielern, ja Initiatoren der Stadtentwicklung.

Sie, die aufgrund ihrer Betroffenheit am besten einschätzen konnten, was sinnvoll ist, bestimmten, bis zu welchem Standard die Wohnung modernisiert oder welche Remise zum Kinderladen umgenutzt werden sollte. Die Bewohner konnten sich aussuchen, ob sie eine begrünte Brandwand oder ein begrüntes Dach wollten. Von jener Effizienz, mit der in das investiert wurde, was die Nutzer selbst wünschten und brauchten, können die Bauherren, die heute Büroflächen errichten, nur träumen. Die Nutzer kennen sie nicht. Man kann bedauern, daß dieser ganze Aufwand allein der Wohnwirklichkeit zugute kam. Diese Sicht verkennt allerdings, daß das alternative Kreuzberg schon damals ein Leben führte, das sich der konventionellen Trennung von Erwerbsarbeit und Wohnen entzog. Andererseits hatte sich das Gewerbe aus der Kreuzberger Mischung schon zuvor verabschiedet. Im stagnierenden Berlin der Mauerjahre gab es dafür eben keinen Bedarf.

Die Altbauten der Luisenstadt und des SO36 können die Einseitigkeit solcher Konjunkturschübe vertragen. Anders dagegen die Neubaubereiche der IBA: Mehr, als die Mauer es je getan hat, verhindert heute in der südlichen Friedrichstadt die Monostruktur des sozialen Wohnungsbaus jede Entwicklung. In mickrigen Erdgeschossen gibt es statt Läden in der Regel nur Müllkammern und Rollstuhlrampen.

Da nützt es nur wenig, daß Straßen und Plätze der Form nach rekonstruiert wurden. Gebaut wurde ein Bild ohne Entwicklungspotential. Ein Besuch der Ritterstraße sei all jenen empfohlen, die auf der Fischerinsel ähnliches ausprobieren wollen.

Umgekehrt war die IBA sehr experimentierfreudig. Gerade weil für die Aufgabe, Stadt neu zu bauen, noch die Routine fehlte. Sie wagte Stadtvillen, offene Höfe und Blockdurchwegungen. Ziel ihrer durchaus noch kritischen Rekonstruktion war kein gewesener Grundriß, sondern die Aufwertung der bestehenden Gebäude: Die Kita der Berliner Architekten Halfmann/Zillich an der Lützowstraße zum Beispiel zeigt dem Blockrand, den die Gegenwart stur durchziehen würde, die Stirn. Sie wächst als flacher Keil schräg in die Tiefe des Blocks und verschafft dem dortigen, zum Kulturzentrum umgebauten Pumpwerk Zufahrt und Vorplatz.

Das Beispiel Lützowstraße zeigt auch, daß es eine gleichwertige Lösung sein kann, eine Baulücke offen zu lassen und als städtischen Garten zu gestalten. Stadtreparatur muß nicht automatisch Bebauung heißen.

Heute kennt die Grafik nur noch Schwarz und Weiß. In den Plänen der IBA dagegen bildeten Bebauung und Freiflächen eine vielfarbige Einheit. Da das Potential der Stadtlandschaften der Moderne eben in den Freiräumen liegt, ist der Blick zehn Jahre zurück ein Blick nach vorn.

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