: Am "Abschaum"-Image kratzen
■ "mob" lädt PolitikerInnen auf die Straße ein. Der "Straßenfeger" läßt sie die Obdachlosenzeitung mit verkaufen. Der grüne Sozialpolitiker Haberkorn war dabei
Der Mann da drinnen im Bus ist neu. Nummer 513 kennt ihn nicht. Nummer 839 kennt ihn auch nicht. Eigentlich ist es auch egal, ob 513 und 839 wissen, wer der da hinten auf dem Rücksitz ist. Hauptsache, sie bekommen von ihm ihre Zeitungen. Nummer 513 will zehn Straßenfeger, auf Kommission. Nummer 839 will auch zehn Stück, aber 839 zahlt. Zehn Mark für zehn Zeitungen, zwei bekommt er gratis dazu. Dann geht's weiter in U- und S-Bahn, den Straßenfeger unter die Leute zu bringen – für zwei Mark, eine gehört dem Verkäufer.
Der Mann, der heute im blauen VW-Bus hinterm Bahnhof Zoo sitzt, ist Michael Haberkorn, der sozialpolitische Sprecher der Bündnisgrünen. Für zwei Stunden übt er sich als Vertriebschef der Obdachlosenzeitung Straßenfeger, „um zu sehen, wie das läuft“. Den „Crashkurs Obdachlosigkeit in Berlin“, den der Verein „obdachlose machen mobil“ (mob), seit gut einem Monat vor allem für Politiker anbietet, wollte Haberkorn nicht absolvieren. „Das hätte ich als aufgesetzt empfunden.“ Zu lange sei er Sozialpolitiker, zu lange im Thema drin. „Aber“, sagt Haberkorn, „manch einem, der im Sozialausschuß sitzt, kann ich den Kurs nur empfehlen.“
Lernen, auf der Straße zu leben. Ohne einen Pfennig. Auf die Unterstützung von Ämtern angewiesen sein. Kein Dach über dem Kopf und keine Privatspähre haben. Im Notfall betteln und schnorren oder Straßenzeitungen verkaufen müssen. Sich 24 Stunden irgendwie durchschlagen und am Ende eines Tages in der Notübernachtung schlafen – der Crashkurs soll Nichtbetroffenen Einblick in die Problematik Obdachlosigkeit geben. Bislang hat nur die SPD- Politikerin Hiller-Ebers mitgemacht. Die PDS hat gekniffen. Und die CDU? Die natürlich auch.
Der Straßenfeger (Auflage zwischen 20.000 und 23.000) wird von 80 bis 100 Obdachlosen verkauft – und wird auch von Obdachlosen mit gestaltet. Was ins Blatt kommt und was nicht, ist Gegenstand heißer Diskussionen. Die neueste Ausgabe mit Iris Berben auf dem Titelblatt („Wenn du resignierst, kannst du nichts verändern“) findet Christian nicht so gut, „da sind zuwenig eigene Beiträge drin“. Heinz meint: „Da scheinen wir gepennt zu haben.“
„Sag mir deine Nummer.“ Aus dem Politiker Haberkorn ist schnell der Vertriebschef Haberkorn geworden. „513? Du hast noch fünf Zeitungen offen“, fünf Zeitungen nicht bezahlt. Trotzdem: 513 bekommt noch mal zehn Ausgaben des Straßenfegers. Hinter der Nummer 513 sind jetzt fünfzehn auf Pump notiert. „Das finde ich völlig in Ordnung“, sagt 513. Und Michael Haberkorn: „Ich habe eben ein großes Herz.“ Üblich ist bei mob e.V. nicht, daß zu viele Zeitungen „nicht bezahlt“ rausgegeben werden. „Deine Nummer?“, fragt Haberkorn den nächsten, der draußen am Fenster steht. Robby hat sie vergessen, „die merke ich mir nie“. Was nun? Die Leute vom Verein helfen dem Bündnisgrünen. Robby hat die Nummer 347. Er kriegt seine Zeitungen.
Micha, Nummer 513, hat sich zu Michael Haberkorn rein in den Bus gesetzt. Zeitungen abholen ist das eine. Einen Kaffee kriegen und Stullen essen das andere. Für die Obdachlosen ist der Vertriebsbus hinter dem Bahnhof Zoo ein Ort zum Durchatmen. Zum Quatschen und zum Sorgenloswerden. Zum Beispiel: die immer größer werdenden Repressalien von Polizei und Wachschützern auf den Bahnhöfen. Da wird Harry von Polizisten drangsaliert, weil er angeblich eine Spritze bei sich hat. Dabei sei es nur ein Kuli gewesen, meint er. Freilich einer, der aussah wie eine Spritze. Da bekommt Markus Platzverbot auf dem Alex, warum, das weiß keiner so genau. Da wird Micha, Nummer 513, vom Wachschutzpersonal aus der S-Bahn geholt und des Bahnhofs verwiesen.
„Unsere Aktion ist die Antwort auf die steigende Aggressivität von Polizei und Wachschutz“, sagt Karsten Krampitz vom Straßenfeger-Team. Seine Hoffnung: Politiker für das Thema zu sensibilisieren und dadurch ein Umdenken bei Polizisten und Wachschützern und bei den Leuten zu erreichen. Ob das gelingt? Micha, Nummer 513, hat seine Zweifel. Zu oft schon ist er von „schweren Bauarbeitern“ angepöbelt („Verpiß dich!“) worden, bekam er zu spüren, daß ihn die Leute eigentlich nur für Abschaum halten. Daß sich das durch die Hilfe von Politikern ändert? „Ich bin skeptisch“, sagt Micha nachdenklich und schreit dann in die Enge des VW-Busses: „Wenn auch noch der Kohl hier reinkommt! Dann steige ich aus!“
Schlußstrich. 119 Zeitungen hat Michael Haberkorn in zwei Stunden ausgegeben. „Was ich gut finde, ist, daß Leute versuchen, sich aus eigenem Antrieb über Wasser zu halten. Daß sie Straßenzeitungen verkaufen als Job ansehen.“ Jens Rübsam
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