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Dicke Klangsplitter, spinnwebfeine Töne

■ Bunt, verdreht: Wolfgang Rihms Kammeroper „Jakob Lenz“ im Hebbel Theater

„Kommst du schon wieder herangeschlichen?“ Lenz steht am Rand der Bühne und wirft einen irren Blick in den Raum. Strähnig steht ihm das Haar vom Kopf, das verblichene Unterhemd ist aus der Hose gerutscht. Keiner da, doch Lenz ist nicht allein. Stimmen, hörbar, sichtbar, flüstern ihm ein, und eine qualvolle Musik verdichtet sich in seinem Kopf.

„Jakob Lenz“ von Wolfgang Rihm ist eine Kammeroper über das illustre und traurige Leben des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob M.R. Lenz (Text frei nach Georg Büchner: Michael Fröhling). An „Katatonie“ habe dieser gelitten, lautete die medizinische Diagnose posthum, an „Spannungs-Irresein, das zu den Schizophrenien rechnet“. Nüchtern sezierend – ein solcher Blick begreift nichts, er würde auch diese Oper nicht verstehen, in der alle Realitäten im Angesicht von Lenzens Zweifeln brüchig werden.

Die Frau im roten Kleid, die Kinder – ja sicher, sie sind nur Phantasien. Und all die Stimmen, flüsternd, hauchend, schreiend, drängend – nur in Lenzens Kopf, bestimmt. Aber: Sind nicht die Hirngespinste auf ihre Art erschreckend wirklich, wahr, präsent? Hören wir nicht auch schon jene wirren Stimmen lauter als das Gerede des dicken Pfarrers, Lenzens Freund (der so herrlich handfest ist und glaubt, mit einem brüderlichen Kuß ließen sich alle Geister vertreiben)?

Es ist Weihnachten. Vielmehr: es scheint nur Weihnachten zu sein, denn als die vielen warmen Lichtlein verlöschen, stehen nackte, kahle Baumgerippe in einer fremd gewordenen Welt („freue dich, o Christenheit“, singen die Stimmen). Die Kulisse verbirgt nicht mehr das Gestänge am Bühnenrand, die Wirklichkeit ist Lug und Trug. Nein, irgendwie geraten die Verhältnisse durcheinander. Die Musik, sie bläst dem Lenz die Flausen ja erst ein! Ein Walzer tönt, schon fangen alle an zu tanzen. Das klingt wie Berg, wie Bach, da wechselt schnell die Stimmung. Volkstümliches hat sich in der Musik abgelagert, abgedroschene Phrasen, die sich überlagern, eine apokalyptische Woge braust heran, dumpfe Schläge hämmern sich ins Hirn. Was ist das Ich, scheint die Musik zu fragen, wenn nicht die Stimmen, die in ihm kreisen und reden?

Freilich ist der mittlerweile zwanzig Jahre alte „Jakob Lenz“ auch in der Koproduktion des Hebbel Theaters mit der Oper Lyon bunt, eindrucksvoll, verdreht (Regie: Sabrina Hölzer). Da spiegelt nicht die Musik die wirre Seele des Lenz, da spiegelt sich im Lenz die Musik. Dazu wird das Ganze noch einmal visualisiert: durch die Dirigentin Claire Gibault, die mitten auf der Bühne steht und wieder die Musik erst hervorzubringen scheint, die spinnwebfeine Töne aus dem Cembalo zieht und dicke Klangsplitter auf die Bühne schleudert.

Und dann Johannes Kösters als Lenz: Wie der irre schaut und doch so normal ist, wie der sich nicht bejammern läßt, weil er mehr Würde hat als alle anderen, wie er klüger, sensibler, hellsichtiger, aber eben auch verrückt ist – das wird nicht nur von den Tönen, sondern auch vom Mienenspiel des Sängers mehr als schizophren vermittelt.

Zuletzt sitzt er auf der Bühne und singt sein letztes Wort, „konsequent“, immer wieder, leer und stumpf, „konsequent“. Und dieses Wort aus seinem Munde, das ist dann noch ein bißchen bedeutungsvoller und trostvoller als alle anderen Worte zuvor. Christine Hohmeyer

Weitere Aufführungen: 20. und 21.4., jeweils 20.30 Uhr, Hebbel Theater, Stresemannstraße 29

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