„Heim, dachte ich, das ist ein schönes Wort“

■ Die Schwabengängerin. Regina Lampert erinnert sich an ihre Kindheit zwischen Heimat und Fremde. Ein einzigartiges Dokument zur Lebenswelt um 1870

Schnifis, ein 400 Seelen zählendes Bergdorf in Vorarlberg, im Winter 1864: Der Februar mit seinen „Spinnstubeten“ geht zu Ende. Jetzt kommt die Zeit, wo der Bauer Johann Anton Lampert mit seiner Frau berät, was in jedem Frühjahr bis St. Joseph aufs neue entschieden werden muß: Welches der acht Kinder muß in diesem Jahr fort, als Hütekind ins ferne Schwabenland nördlich des Bodensees? In Frage kommt eigentlich nur der Anton. Doch Anton, acht Jahre alt, will nicht alleine gehen; als der Pfarrer im Religionsunterricht nach den „Schwabenkindern“ fragt, schaut er fast verzweifelt auf seine Schwester in der Mädchenbank gegenüber – da hebt auch Regina die Hand.

Die Szene ist erinnert mit einer Präzision, als ob sie sich erst gestern zugetragen hätte. Doch zwischen Ereignis und Erinnerung liegen 65 Jahre: Regina Lampert ist 75 Jahre, als sie im Juni 1929 in Zürich ein Schreibheft kauft und damit beginnt, ihre „Jugend-Erinnerungen“ aufzuzeichnen. Von da an schreibt sie vier Jahre lang, acht Hefte mit 1.500 Seiten voll – bis ihr der graue Star das Augenlicht trübt und sie anfängt, bereits beschriebene Seiten noch einmal zu überschreiben.

Als sie mit ihrem kleinen Bruder und einem Dutzend anderer Kinder des Dorfes zum ersten Mal fortzieht, ist sie zehn. Begleitet vom Vater, geht es zu Fuß oder mit vorbeikommenden Fuhrwerken rheinaufwärts nach Bregenz, mit dem Dampfboot über den Bodensee nach Friedrichshafen, von da mit dem Zug ins oberschwäbische Ravensburg. Dort, in der „Markthalle für Hirtenkinder und Dienstboten“, wird die kindliche Arbeitskraft verdingt bis auf Martini im Herbst – ein seit Beginn des Jahrhunderts übliches Geschäft. Auch Anton und Regina finden schnell Abnehmer, Regina kommt zu einem Bauern in Berg bei Friedrichshafen. Ihr Lohn: zehn Gulden und „zur Befestigung ein Gulden Haftung, den der Vater bar erhalten hat“. Dazu das „doppelte Häs“ – je eine Garnitur Kleidung für Werktag und Sonntag.

Die Arbeit ist streng, abwechselnd muß sie die Kinder und die Gänse des Bauern hüten, Kirschen, Pflaumen und frische Butter an den königlichen Hof in Friedrichshafen fahren, dann wieder Gänse rupfen, zehn Stück am Tag, Knechten und Mägden während der Kornernte das Essen bringen, die Kühe auf der Weide beaufsichtigen, beim Füttern der Tiere im Stall und bei der Flachsernte helfen. Einmal in der Woche ist Schule, Prügel mit dem Lineal sind die Regel. Zum Lernen bleibt keine Zeit: „Der Pfarrer wurde so bös; er hatte gerade eine Brise Schnupf genommen und die Silberdose noch in Händen, die er mir links und rechts um meinen Kopf herumgeschlagen, bis ich blutete.“ Von da an geht sie nicht mehr hin.

Die großen, weiten Kornfelder, die mit Ochsen oder Pferden gepflügt werden, beeindrucken sie tief: „Bei uns daheim in Schnifis hat es nur so kleine Äckerle, die nur mit Spaten und Hauen bearbeitet werden.“ So faßt sie den Unterschied zwischen dem agrarisch reichen Oberschwaben und den Verhältnissen im eigenen Dorf, wo das, was der karge Boden hergab, nie und nimmer zum Leben reichte, zusammen. Daheim waren tausend Nebenbeschäftigungen nötig, in einer kleinen Werkstatt stellte der Vater Küblerware her, dazu verfertigte man mit Glanzleinwand bezogene Spanschächtelchen für Apotheken. Doch selbst das genügte nicht, die eigene Familie über Wasser zu halten.

Schnifis ist nur ein Beispiel für Verhältnisse, wie sie damals überall in den Berggebieten Vorarlbergs und Tirols anzutreffen waren. Hätte man nicht einen Teil der eigenen Kinder woanders in Lohn und Brot gebracht, wären sie einfach verhungert. Aufbruch und Heimkehr dieser „Schwabenkinder“ gehörten zum festen Rhythmus des dörflichen Jahreslaufs. Regina Lampert erinnert sich an den Schmerz der Abschiede, an das grenzenlose Heimweh, das sie schon am ersten Tag in der Fremde überkam: „Ach Gott, dachte ich, wäre doch der Sommer schon vorüber, dann könnte ich wieder heim, heim, dachte ich, das ist doch ein schönes Wort.“

Regina Lampert schreibt, ohne sich um Grammatik und Zeitenfolge zu kümmern. Sie schreibt, als ob sie's mündlich erzählen würde, in einem Fluß, dessen Sog man sich kaum entziehen kann. Ihre Aufzeichnungen umfassen nur zehn Jahre, die Zeit von 1864 bis 1874. Doch die Sensibilität, mit der sie ihren Alltag, die unterschiedlichen Milieus und Mentalitäten ihrer jeweiligen Umgebung erfaßt, machen diese Erinnerungen zu einer Quelle ersten Ranges. Das gilt auch für die weiteren Stationen ihres Lebens, die Jahre als Aushilfe in einer einsamen Ausflugsgaststätte, die Arbeit als „fleissigs Mägdle“ bei armen Bergbauern, schließlich die Anstellung als Dienstbotin in der Stadt.

„Die Schwäbengängerin“ ist ein Buch von mehr als regionaler Bedeutung. Es zeigt die Widersprüche zwischen einer sich rasch industrialisierenden Gesellschaft unten im Tal und dem aussichtslosen Versuch, die Lebensformen einer traditionellen klein- und halbbäuerlichen Welt zu verteidigen. Es wird etwas von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ faßbar, vom Nebeneinander verschiedener Zeiten und Lebenswelten, welche diese frühe „saisonale Arbeitsmigrantin“ auf ihren Wegen durchquert hat. Werner Trapp

Regina Lampert: „Die Schwabengängerin. Erinnerungen einer jungen Magd aus Vorarlberg 1864-1874“. Hrsg. von Bernhard Tschofen. Limmat Verlag. Zürich 1996, 440 S., 44 DM