■ Rede Präsident Havels vor dem Bundestag – Auszüge: Was „Heimat“ heißen könnte
[...] Die Bedeutung der Tschechisch-Deutschen Erklärung besteht hauptsächlich darin, daß sie uns befreit. Indem wir die Geschichte unvoreingenommener historischer Forschung anvertrauten, haben wir vor allem die Historiker selbst befreit: Sie müssen nicht mehr unangenehmen Fakten nur deswegen ausweichen, weil deren Beschreibung ungute politische Konsequenzen haben könnte.
Durch die Befreiung der Historiker haben wir aber noch viel mehr getan: Wir haben dadurch zur Freiheit all unserer Mitbürger und der Politiker beigetragen. [...] Ein kleines Beispiel: Wenn ich – sehr wohl wissend, warum – vor zwei Jahren nur sagte, daß die aus unserem Land stammenden Deutschen bei uns als Gäste willkommen sind, so kann ich heute ohne Befürchtungen auch hinzufügen: daß sie nicht nur als Gäste, sondern auch als unsere einstigen Mitbürger beziehungsweise deren Nachkommen willkommen sind, die bei uns jahrhundertealte Wurzeln und das Recht darauf haben, daß wir diese ihre Verbundenheit mit unserem Land wahrnehmen und achten. [...]
Konkret bedeutet es auch, daß wir in der Zukunft jene Begriffe oder Schlagwörter meiden sollten, die – unter anderem dank ihrer poetischen Nebelhaftigkeit – in dem historischen Bewußtsein der anderen eine andere Bedeutung als bei uns haben, oft sogar eine sehr negative Bedeutung. Sie wissen wohl, daß ich über solche Wortverbindungen spreche wie zum Beispiel „Schlußstrich“, verstanden in Deutschland als ein Ausdruck für den Versuch, böse Dinge zu vergessen, oder „Recht auf Heimat“, was bei uns als gehobene Bezeichnung für einen schlichten territorialen Anspruch betrachtet wird. [...]
Was bedeutet „Heimat“?
Der Mensch ist keine Erscheinung an sich, deren Identität in keinem Zusammenhang mit ihrer Umgebung stünde und davon völlig unabhängig wäre. Im Gegenteil, unsere Identität wird durch zahlreiche Schichten oder Kreise dessen mitgestaltet, was im allgemeinen als unser Zuhause bezeichnet werden kann.
Unsere Familie; der Kreis unserer Freunde oder unserer Glaubensbrüder; das Haus, in dem wir leben; unsere Gemeinde oder unser Bezirk, einschließlich der Landschaft, die ihn prägt; unsere Firma oder unser Beruf; unser Verein; unsere Volksgruppe oder unsere Nation; der Staat, dessen Bürger wir sind; aber auch der breitere Zivilisationskreis, zu dem wir uns durch unsere Wurzeln und unsere Geschichte zugehörig fühlen; und letzten Endes auch unser Erdenbürgertum.
Nur eine dieser Schichten nennen wir Heimat. Gewöhnlich verstehen wir darunter das Land, in dem das Volk lebt, dem wir angehören. Als sich allmählich Nationen im modernen Sinne des Wortes zu konstituieren begannen und Eigenstaatlichkeit gewannen, wurde unter dem Begriff Heimat offensichtlich immer deutlicher der eigene Nationalstaat verstanden und unter dem Begriff Patriotismus die Gefühlsverbundenheit sowohl mit dem eigenen Volk und dem von ihm bewohnten Land als auch – in zunehmendem Maße – mit dem Staat, den dieses Volk aufbaut oder um den es kämpft.
Ich glaube, wenn man heute Heimat sagt, verbinden damit die meisten Menschen eben die zuletzt beschriebene Bedeutung. Anders gesagt, sie sehen die Heimat als eine praktisch abgeschlossene, feststehende, genau definierbare Struktur, die zu keinen weiteren Überlegungen anregt. Ist eine solche Einstellung zur Heimat die einzig mögliche, richtige und zukunftsorientierte Haltung?
„Heimat“, das am häufigsten benutzte und am besten zutreffende deutsche Wort für das, was im Tschechischen „vlast“ genannt wird, ist vom urgermanischen „haima“ abgeleitet, welches nicht nur die uns nahestehende und vertraute Welt, also eine Schicht unseres Zuhauses bezeichnete, sondern auch die Welt und das Weltall in seiner Gesamtheit, das heißt, das Universum. Ähnlich bedeutet das altisländische Wort „heimspekja“, über das Heim und die Heimat zu sprechen, aber auch über das Weltall nachzudenken, das heißt, zu philosophieren. [...]
Ursprünglich bezeichnet also das Wort Heimat keine abgeschlossene Struktur, sondern das Gegenteil: eine Struktur, die öffnet; einen Leitfaden, der vom Bekannten auf das Unbekannte, vom Sichtbaren auf das Unsichtbare, vom Verständlichen auf das Geheimnisvolle, vom Konkreten auf das Allgemeine weist. Es ist der feste Boden unter den Füßen, auf dem der Mensch steht, wenn er sich zum Himmel hin ausrichtet.
Am einfachsten ist natürlich, über den Begriff Heimat nicht viel nachzudenken und bei der traditionellen Bedeutung zu bleiben beziehungsweise die Auffassung von Heimat als einer abgeschlossenen Struktur weiter zu bekräftigen und zu vertiefen. Dieser Weg ist nicht nur unkompliziert, sondern auch für gewisse Gesellschaftsschichten und deswegen auch für gewisse Politiker ziemlich verlockend. Er bietet jedem ein bequemes Ruhekissen bekannter Realien und die Umarmung einer bekannten Gemeinschaft. Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft – als der höchste Wert – löscht individuelle Verantwortung aus und wird zu einer leicht erkennbaren Sicherheit in einer unsicheren Welt. Ich bin Tscheche, Deutscher oder Franzose, ich werde mich in dem kollektiven Willen des Stammes auflösen und als dessen passiver Bestandteil durch das Leben schweben. In ihrer extremen Form gebiert eine solche Einstellung nicht mehr und nichts Besseres als Chauvinismus, Provinzialismus, Gruppenegoismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Wozu solche kollektiven Gemütszustände führen, wenn sie von nationalistischen Anführern geschickt angespornt werden, wissen wir alle nur zu gut: zu Gewalt, ethnischen Säuberungen, Kriegen und Konzentrationslagern. Die Auffassung von Heimat als einer abgeschlossenen Struktur birgt in sich die Gefahr, daß die Heimat eher als ein ungelüftetes Loch statt als Sprungbrett der menschlichen Entfaltung betrachtet wird. [...]
Ich glaube, daß die moderne Welt mit der Zeit die traditionelle Auffassung des Nationalstaates als einem Gipfelpunkt der nationalen Existenz und dadurch als de facto Ende der Geschichte hinter sich läßt. In dieser Auffassung war die Tatsache, daß ein Volk seinen Staat hatte, wichtiger als das, was für ein Staat es war und auf welchen Werten er beruhte. Eine allmähliche Überwindung des Nationalstaates in seiner traditionellen Auffassung sollte meines Erachtens auch eine neue Reflexion des Begriffs Heimat herbeiführen.
Wir sollten lernen, die Heimat wieder – so wie es wahrscheinlich einst geschah – als unseren Teil der „Welt im Ganzen“ zu empfinden, das heißt als etwas, das uns einen Platz in der Welt verschafft, statt uns von der Welt zu trennen.
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