■ Vorschlag: Nostalgie & Moderne: Michel von der Heide im Roten Salon
Was soll aus solch einem Jungen schon werden, der den Grand Prix d'Eurovision de la Chanson anno 83 als eine Art Initiationsritus erlebt hat und fortan Lieder der heimischen Schlagersängerin Paola vor dem Spiegel intonierte? Er singt immer noch und bringt den Schlager wieder dort hin, wo er seine tiefen Wurzeln hat: im leidenschaftlich empfundenen Chanson. Und dem gibt er die Ironie zurück, damit er vom Sockel der allzu hohen Kunst zurück ins Leben kehrt. Aber was da vielleicht genauso wichtig ist: Der heute 25jährige Michael von der Heide ist immer noch ein bißchen der Junge von damals geblieben. Ganz artig kommt er daher, als schelmischer Lausbub, und die ernsthafte Liebe zum Liedgut, zu Schmelz und Kitsch ist immer noch unverstellt. Ganz unbekümmert stürzt er sich in einen Rausch aus Romantik und Folklore, der unversehens ins Publikum übergreift.
Hierzulande kennt ihn fast noch niemand. Zu Hause aber in der Schweiz, da ist er bereits ein heftig gefeierter Star. Und es sollte mit dem Teufel zugehen, wenn man sich nicht auch bald bei uns um die Eintrittskarten reißen sollte. Michael von der Heide singt mit artig schöner Stimme in vielen Sprachen und wie's gerade kommt. Traditionelle Volkslieder mit Jodler und „Rosen im Tale“, Chansons, etwa von Serge Gainsburg, Schlager wie jene von besagter Paola, Rocksongs – er nimmt den Kitsch als großes, tiefes Gefühl, und es schaudert einen. Er bleibt ganz ernst und so naiv dabei, man kichert und staunt: Diese Mischung aus aufrichtiger Verzückung und ironischer Verfremdung funktioniert einfach klasse. Man kommt nicht drum herum, ihn mit Ursli Pfister von den Geschwistern Pfister zu vergleichen.
Nicht nur, weil beide mit Charme nur so sprühen, so hübsche helvetische Lieder singen und so selbstbewußt Männer wie Frauen betören (“Man nennt mich den Vamp der Innerschweiz“). Wo die Pfisters aber von vornherein den Camp-Blick aufs Liedgut richten, verbleibt bei Michael von der Heide immer noch ein Stück Natürlichkeit und er ein „knabenhafter chamäleonartiger Wundersänger“. Sagt's und hat recht. Eine Sonnenbrille auf dem Kopf, und er macht auf Bon Jovi von den Bergen, mit Rhythm & Blues im Blut und vor allem auch in den Beinen. Dann kramt er doch tatsächlich die frivolen Lieder von Helen Vita aus und singt den „Brief einer höheren Tochter“ so arglos und anmutig, daß das Schlüpfrig-Zweideutige mit einem Male geradezu glaubhaft ahnungslos wirkt. Der Pianist, kettenrauchend, die E-Gitarristin und Gesangspartnerin ein geborenes Komiktalent: Da wird aus Folklore und Easy-Listening-Beat Spaß- und-Schmacht-Musik aus einem Guß.
Beim Grand Prix trat 1983 Mariella Farré mit „Io cosi non ci sto“ an. Von der Heide singt's als Tragödie in drei Akten, mit Italoschmelz und sich dramatisch aufbäumendem Furioso. Für die Schweiz gab es damals gerade mal den 15. Platz. Bei Michael von der Heide kommt man nicht umhin, zu korrigieren: „La Suisse: Douze Points.“ Axel Schock
Heute und morgen, 22 Uhr, Roter Salon der Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte
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