piwik no script img

Im Takt von Aris

Die übliche kulturpolitische Kabale. Thessaloniki zwischen Kunst und Chaos. Ein kleiner Streifzug durch Europas Kulturhauptstadt 1997  ■ Von René Aguigah

Ein Menschenauflauf vor dem Weißen Turm. Hunderte haben sich vor Thessalonikis Wahrzeichen in schwarz-gelbe Fanschals und -handtücher gehüllt. In einer Stunde wird hier das Basketballteam von Aris Saloniki vorbeifahren. Daß der Tummelplatz vor dem alten Stadtmauerrest eigens für das Kulturstadtjahr 1997 fein hergerichtet ist, interessiert die Massen nicht. Ihr Herz schlägt im Dribblingtakt von Aris.

Einen Steinwurf entfernt von der Basketballhalle auf dem Messegelände gab es einige Tage zuvor eine Zusammenkunft ganz anderer Art. Nicht Schals und Handtücher, sondern Schlips und hohe Hacken waren dort die Accessoires. Ein Stimmengewirr aus Griechisch, Deutsch und Englisch: Die kunstinteressierte Szene Thessalonikis war vollständig erschienen. Wem es gelang, zwischen all den Menschen einen Blick auf die Fotoserie an der Wand zu werfen, erblickte einen Mann mit Hut. In einer Vitrine ein Stück Filz. Das makedonische Museum für zeitgenössische Kunst zeigt Joseph Beuys.

Erstmals sind Werke von ihm in Griechenland zu sehen. In einem hellen Saal hängen hingehauchte Bleistiftskizzen, finden sich eine Flasche verseuchten Rheinwassers und die Collage „Plus und Minus“, die sich aus Zeitungsausrissen zusammensetzt, die alle irgendwie von Chemie handeln. Doch wie lassen sich Beuys' Arrangements zeigen? Die Ausstellung in Thessaloniki behilft sich mit meterlangen Erklärungstafeln, Fotos und Videomaterial. „Selbst Kunststudenten verlangen immer wieder nach Hinweisen“, sagt Matoula Scaltsa, die Kuratorin des Museums.

Die Hinweistafeln allerdings hängten Scaltsas Mitarbeiter in letzter Minute auf: Die Druckerei der Kulturhauptstadt-Organisation lieferte die längst vorbereiteten Texte erst am Vortag der Vernissage. „Unglaublich!“ empört sich die Kunstprofessorin. „Gemeinsam mit dem Goethe-Institut haben wir vor drei Jahren begonnen. Und nur weil in diesem Organisationsbüro alles drunter und drüber geht, sind wir in Hektik geraten.“

Der Chef des Goethe-Instituts, Dr. Rüdiger Bolz, sieht das gelassener. „Die Planungszeiten hier sind halt kürzer, als wir das in Deutschland gewohnt sind.“ Sagt's und öffnet die Tür zum Balkon seines Büros. Ein traumhaftes Panorama: Die gesamte Uferpromenade, vom Weißen Turm im Osten bis zum Hafen im Westen, liegt ihm zu Füßen. „Nein, wir haben keine Probleme, uns mit der griechischen Arbeitsweise zu arrangieren“, sagt Bolz. Und doch: Die Anfrage bei Choreographin Pina Bausch wurde abgelehnt – zu kurzfristig.

Keine zehn Schritte vom Goethe-Institut entfernt, ebenfalls an der Paralla („Parallelstraße“), wie die Thessaloniker ihre Uferpromenade schlicht nennen, wohnt Aris Georgiou. „Kulturstadt 1997? Das ist gelaufen für mich. Ich warte nur noch auf Silvester“, sagt er zynisch.

Georgiou ist bekannt in Thessalonikis Kulturszene. 1987 hat der 45jährige Fotograf Griechenlands renommierteste Fotoausstellung gegründet. In den letzten zwei Jahren erhielt die „Photosynkyria“ höchste westliche Weihen: Geld vom Kulturminister. Doch anstatt im Prunkjahr das zehnjährige Jubiläum zu feiern, ließen die Kulturstadt-Oberen die „Photosynkyria“ links liegen. Nur kurz blitzt in Georgious dunklen Augen noch einmal der Zorn auf: „Die Leute in dem Organisationskomitee sind unfähig, so ein Projekt zu gestalten. Kein einziger hat einen kulturellen Hintergrund.“ In der Tat besteht das Gremium aus Politikern und Verwaltungsbeamten – zusammengesetzt gemäß Parteienproporz. „Die ignorieren die vorhandene kulturelle Infrastruktur in Saloniki, statt dessen gründen sie ihre eigenen Einrichtungen.“

Und diese Neugründungen sind zuweilen von bescheidener Qualität. Seit kurzem besitzt Thessaloniki ein neues Fotomuseum. Ohne eigene Sammlung, dafür mit Geld und Personal. Die Räume am zentralen Aristoteles-Platz sind angemietet. Drinnen: zerfurchte Gesichter alter Patriarchen vor rauhen Bergen, barbusige Damen auf Oldtimern, süßliche Kinderszenen durch Weichzeichner fotografiert – eine wahllose Kollektion von Bildern prämierter Amateurfotografen. Orientierende Hinweise gibt es nicht, ganz zu schweigen von einem Katalog. Doch über allem prangt das würdige Logo der Kulturhauptstadt.

Draußen, auf dem langgezogenen Aristoteles-Platz, pulsiert das Leben. Etwa eine Million Menschen leben im Großraum Thessaloniki. Auf den Straßen rollt Tag und Nacht eine nicht enden wollende Blechlawine. Wer auf die andere Seite des Aristeleous, Richtung Markt, spazieren will, nimmt die Beine in die Hand – auf der Flucht vor den vielen Taxis, die ohne Rücksicht auf Verluste durch die Straßen rasen. Ein Fischhändler schaufelt einer Hausfrau krabbelnde Krebse in die Tasche, und auf dem orthodoxen Miniaturaltar am Straßenrand entzündet ein Passant eine Kerze.

Auf der Egnatia, einer der Hauptverkehrsstraßen, merkt man heute kaum noch etwas von Salonikis 2.300jähriger Geschichte. Nur vereinzelt stößt man auf einen klassizistischen Bau zwischen den neunstöckigen Betonkästen, die mit ihren zahllosen staksigen Antennen wie riesige Legohäuser wirken. Dabei war es die alte Via Egnatia, die der Stadt den Aufstieg zur Handelsmetropole bescherte, nachdem die römischen Kaiser Makedoniens wichtigste Hafenstadt im zweiten Jahrhundert vor Christus in ihr Imperium einverleibten. In byzantinischer Zeit durfte sich Thessaloniki neben Konstantinopel symprotevousa, Mithauptstadt, nennen.

1430 fielen die Türken ein. Unter der Gunst des Sultans flohen Tausende Juden aus Bayern und Ungarn, vor allem aber aus Spanien in die weltoffene Hafenstadt. Die verdienten ihr Geld als Händler und Bankiers, als Handwerker und Hafenarbeiter. Um 1900 war mehr als die Hälfte der 160.000 Einwohner jüdisch, nur rund 30.000 Griechen lebten in Thessaloniki. Die Zeitungshändler verkauften französischsprachige Blätter, auf der Egnatia hörte man das Spanisch der sephardischen Juden. Bevor Saloniki 1912 dem griechischen Nationalstaat angegliedert wurde, ruhten die Geschäftsleute am Sabbat. 1941 kamen die deutschen Truppen. Heute leben noch 1.100 Juden in Thessaloniki.

Für die jüdische Gemeinde ist das Kulturstadtjahr eine Gelegenheit, ihren reichen Anteil an der Geschichte der Stadt einer breiten Öffentlichkeit vorzuführen. „Das gelingt uns auch ganz gut“, sagt Andreas Sefiha, einer der wenigen, die 1943 der Deportation nach Auschwitz entgehen konnten. Heute sitzt er der jüdischen Gemeinde vor. Vor drei Wochen eröffnete er ein jüdisches Museum in der Nähe des Markts. Und an einer vielbefahrenen Kreuzung der Egnatia wird im Herbst ein Holocaust-Denkmal errichtet. „Aber bis wir all das durchgesetzt hatten“, sagt Sefiha, „mußten wir hart kämpfen. Das Organisationskomitee hat lange gezögert, unseren Vorschlägen zuzustimmen.“

Die Kulturregenten in der noblen Villa an der Vassilis-Olgas- Straße verstehen die Kritik nicht: „Ich weiß gar nicht, warum die Medien immer so auf uns herumprügeln.“ Der Prügelknabe heißt Konstantinos Loizos und ist Direktor des Kulturstadt-Managements. Der gedrungene Mann läßt sich von einer seiner drei Sekretärinnen Kaffee einschenken und rutscht ein wenig herunter in dem schwarzen Ledersessel. Ein Schleudersitz: Loizos, Mitglied der sozialistischen Papandreou-Partei Pasok, ist der dritte Kulturstadt- Chef seit 1992. „Die Leute sollten einfach die Fakten sprechen lassen“, sagt er.

Eine Faktenauswahl: Thessalonikis gigantische Bauprojekte – etwa die acht neuen Theater, die geplante Konzerthalle, die Freiluftarena – werden zum Teil erst im nächsten Jahrtausend funktionsfähig sein. Große Operngalas wie die Aufführung von Puccinis „Bohème“ mußten deshalb abgesagt werden. Die Organisation gebietet über 494 Millionen Mark. Gut 430 Millionen davon fließen in Bau- und Renovierungsarbeiten. Die Anweisungen des 15köpfigen Führungskomitees befolgen 230 Mitarbeiter in der Verwaltung, weitere 80 in der Kulturabteilung.

An deren Spitze residiert seit knapp einem Jahr Panos Theodoridis – die drei Vorgänger des künstlerischen Leiters hatten entnervt das Handtuch geworfen. Routiniert zählt er die Höhepunkte des Musenmarathons auf: Goya- und Caravaggio-Ausstellungen; Theater von Peter Stein und Peter Brook; die Ausstellung zum Berg Athos, in der der autonome Mönchsstaat erstmals seit mehr als tausend Jahren seine wertvollen Schätze ausstellt. „Zusätzlich präsentieren wir alles, was der Balkan kulturell zu bieten hat“, poltert der mächtige Schriftsteller. Bis vor kurzem mußte Theodoridis jede Entscheidung in der ersten Etage abnicken lassen. Dort sitzt Direktor Loizis. Vor vier Wochen hat sich Theodoridis endlich weitgehende Unabhängigkeit gesichert.

„Vor allem die Öffentlichkeitsarbeit werde ich verbessern“, sagt Panos Theodoridis. Und vielleicht denkt er an die Begeisterung für den Basketballklub Aris, wenn er ergänzt: „Wir wollen auch die Massen ansprechen, die sonst nicht ins Theater gehen.“ Doch noch immer ist das Programm ab Mai nicht gedruckt, geschweige denn in die Briefkästen der Bürger gesteckt.

Hochklassige Beuys- und Caravaggio-Premieren, aber ständig verschobene Termine und ein Personenkarussell, das sich gedankenlos dreht wie auf der Kirmes: Droht das Kulturstadtjahr zwischen Weltkunst und Chaos zu zerbrechen? „Hier treffen einfach die falschen Leute die Entscheidungen“, sagt Matoula Scaltsa, die Kunstprofessorin. Und Aris Georgiou, der Fotograf: „Die Verantwortlichen wollen nur ihrer Karriere nützen und bedienen sich dafür des kulturelles Diskurses.“ – „Ach was, die Griechen kokettieren einfach damit, wenn sie ihr Land ein bißchen runtermachen“, besänftigt Rüdiger Bolz, der Deutsche.

Während an dem sonnigen Aprilnachmittag die schwarz-gelben Massen ihre Basketballhelden feiern, streifen vier, fünf Besucher durch die Etagen des Weißen Turms. Sie studieren die byzantinischen Ikonen oder ersteigen die dunkle Wendeltreppe. Von oben hat man einen weiten Ausblick. Direkt gegenüber: das makedonische Theater. Ein Baugerüst umzäunt es, weit oben hängt das hastig installierte Kulturstadtlogo. Im Herbst soll die Bühne bespielbar sein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen